Die inneren Revolutionen
Eine junge Frau in Teheran sitzt am frühen Morgen vor dem Spiegel und betrachtet ihren Körper, bewundert sich selbst. Nicht aus Narzissmus. Sondern um sich vor Augen zu führen, was sie kurz darauf Stück für Stück verhüllt, um den Kleidungsvorschriften des Regimes der Islamischen Republik zu entsprechen. Nebenbei verabredet sie sich mit anderen jungen Frauen für den frühen Nachmittag.
Sie werden sich im Laleh Park in der Innenstadt treffen, ihre Hijabs abnehmen und einander dabei filmen. Die Aktion werden sie live im Netz streamen, in der Hoffnung, dabei nicht von den allgegenwärtigen Sittenwächtern erwischt zu werden – so wie einige Monate zuvor Mahsa Amini, die von den Beamten ermordet wurde.
Suzi Ehtesham-Zadeh greift für diese Kurzgeschichte auf reales Material zurück: Wer zu Beginn der vielseitigen Proteste unter dem Motto “Zan, Zendegi, Azadi” ('Frau, Leben, Freiheit') die Aktivitäten der Demonstrantinnen und Demonstranten im Netz verfolgt hat, wird sich an die beschriebenen Szenen erinnern, denn sie sind genau so geschehen, wie die Autorin sie hier beschreibt.
Die Beschimpfungen durch männliche Passanten – aber auch den Applaus und die Unterstützung anderer Menschen im Park, die staunenden Blicke spielender Kinder, die noch nie zuvor erlebt haben, dass eine Frau außerhalb der eigenen vier Wände den Schleier lüftet.
Man könnte meinen, Suzi Ehtesham-Zadehs Storysammlung sei eine Reaktion auf die jüngsten Ereignisse in Iran, wo Ehtesham-Zadeh aufgewachsen ist, bevor sie in die USA ging, um Anglistik und Kreatives Schreiben zu studieren. Die Geschichten erscheinen im Juni unter dem bezeichnenden Titel "Zan“ bei Dzanc Books in den USA, nachdem die Autorin bereits viele Jahre lang Texte in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht hat.
Tatsächlich entstand nur ein kleiner Teil der sechzehn Erzählungen im vergangenen Jahr, die meisten hat sie bereits vorher geschrieben. Aber alle Erzählungen tragen die Ereignisse nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 bereits in sich, dieses Brodeln unter der Oberfläche, das sich zwangsläufig entladen musste in der bislang wohl größten Eruption gegen ein Regime alter, sich an die Macht klammernder Männer. Umfragen zufolge haben sie längst mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung gegen sich.
Ehtesham-Zadeh wurde in Washington geboren, die Familie zog in den Iran, als sie noch klein war. Kindheit in Teheran, Studium in Stanford und Boston, und mittendrin die Islamische Revolution: Wie so viele damals ging Ehtesham-Zadeh nach dem Sturz des Shah zurück in den Iran, in der Hoffnung auf einen demokratischen Aufbruch (oder einen sozialistischen, was auch heute in weiten Teilen der iranischen Opposition ein Thema ist).
Die Stimme der Frauen
Die seit Monaten anhaltenden Proteste gegen das iranische Regime werden maßgeblich von jungen Frauen vorangetrieben. Warum das so ist, verrät auch die Literatur. Gerrit Wustmann stellt Bücher iranischer Autorinnen vor.
Auf schwankendem Boden
Doch wie wir heute wissen, kam statt Aufbruch eine neue Repression. Nur Wochen nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Paris im Jahr 1979 entpuppte sich Ayatollah Khomeini als Despot. Man hätte es wissen können, hätte man seine Bücher gelesen und ernstgenommen, aber wie so oft trug die Hoffnung Scheuklappen.
Es folgte das bekannte Programm: Zensur, Enteignungen, Ende von Grundrechten, Unterdrückung von Frauen, Minderheiten und Oppositionellen, Massenverhaftungen, Folter. Ehtesham-Zadeh beschreibt diese Zeit hautnah aus der Perspektive einer jungen Frau, deren Eltern im wohlhabenden Norden von Teheran leben. Sie beteiligen sich nicht an den Demonstrationen zum Sturz des Shah und hinterher verfolgen sie die Entwicklungen mit Entsetzen, bis ihre Tochter die Reißleine zieht und das Land in Richtung USA verlässt, nachdem ihr Geliebter verhaftet und ins bis heute berüchtigte Evin Gefängnis gebracht worden ist.
Auch um Frauen im US-Exil geht es in "Zan". Ehtesham-Zadehs Geschichten sind dann am stärksten, wenn sie ins Innere ihrer Figuren dringt, die sich zwar an das Leben und die Freiheiten in einem demokratischen Land gewöhnt haben, aber dennoch mit sich hadern: Weil sie ihre Kinder zu amerikanisch erziehen; weil sie selbst verlernen, richtig Persisch zu sprechen; weil sie den Kontakt zu Verwandten und Freunden verlieren; weil ihr amerikanisches Umfeld ein völlig schiefes, massenmedial geprägtes Iranbild hat; weil Lebensgefährten sie exotisieren, ohne sich wirklich für ihren Background zu interessieren – und so vieles mehr. Es sind starke Frauen einerseits, andererseits Menschen auf einer beständigen Suche nach sich selbst, nach einer gefestigten Identität, die verloren gegangen zu sein scheint.
Doppelbödig und mehrdeutig
In der Erzählung "Coming out, Going under" geht es um eine iranische Studentin, die in den USA ihre Lebensgefährtin heiratet und nicht weiß, wie sie das ihrer konservativen Familie daheim nahebringen soll. Ein anderer Text schildert die zermürbende Lage einer aus Iran nach Griechenland geflüchteten jungen Afghanin und zeichnet den von ständiger Angst geprägten Alltag in einem der Elendslager an den Außengrenzen der EU nach. Ebenso gibt er Einblicke in die schwierige Situation von Minderheiten in Iran, die ständig nur Spielball populistischer Politikinteressen sind.
In "The Baboon" reist die Protagonistin gemeinsam mit ihrem amerikanischen Lebensgefährten nach Teheran zur Familie, wo der Großvater eine symbolträchtige Geschichte erzählt, die nicht nur die handelnden Figuren, sondern auch die Leser ambivalent zurücklässt: Was will der alte Mann sagen? Dass er nichts von dem jungen Amerikaner hält? Dass das Leben grausam sein kann? Oder doch etwas ganz anderes? Und weshalb hat er Abe dann die Opiumpfeife angeboten, ihn quasi in die Familie aufgenommen?
Viele der vorliegenden Geschichten sind doppelbödig und mehrdeutig. Dabei gelingt es Suzi Ehtesham-Zadeh, mit Leichtigkeit und einer wunderbar klaren Sprache, ihre Figuren zum Leben zu erwecken und ihre Umgebung sichtbar zu machen. Gleichzeitig verweigert sie sich allem Eindeutigen und zeichnet die Frauen, von denen sie erzählt, so menschlich, wie es bei literarischen Figuren eher selten ist.
"Der Verlust der Heimat ist ein großer Schmerz“
Die iranisch-deutsche Autorin und Filmemacherin Siba Shakib kam in Teheran zur Welt und schreibt in ihren Bestsellern über Themen wie Herkunft und Vergangenheit. Mit Qantara.de spricht sie über ihren neuen Roman "Der Kirschbaum, den sie ihrer Mutter nie schenkte" sowie über Heimat, Religion und die aktuelle Debatte zur Identitätspolitik. Ein Interview von Schayan Riaz
Bisweilen drängt sich das Gefühl auf, dass einzelne Passagen fast zu essayistisch sind, dass sie zu sehr versucht, Leserinnen und Leser, die noch gar nichts über Iran wissen, dort abzuholen, wo sie stehen. Sie erläutert historisch-politische Entwicklungen ebenso wie kulturelle Eigenheiten und Marotten oder Gesetze und Regeln im heutigen Iran. Aber man mag das dem Buch nicht als Schwäche auslegen.
Denn oft ist es so, dass iranische Literatur sehr viel an Wissen voraussetzt, beispielsweise historische Ereignisse bloß antippt – und man muss dann schon wissen, worum es geht. Da erschwert einem Publikum, das mit dem Land nicht so vertraut ist, natürlich den Zugang. Hier ist das Gegenteil der Fall: Der Einstieg ist denkbar einfach, weil man Situationen, Kontexte und Hintergründe sofort begreift, und das, ohne dass sich je Oberflächlichkeiten oder Verallgemeinerungen einstellen. Alle wichtigen Details sind hell erleuchtet. Nicht zuletzt deshalb ist das Buch lesenswert und sicher auch für eine Übersetzung ins Deutsche gut geeignet (was hiermit ausdrücklich empfohlen sein soll).
Wer verstehen will, was aktuell in Iran geschieht und welche Ursachen und Hintergründe die politisch-gesellschaftliche Lage hat, wer nachvollziehen möchte, was das in den Betroffenen auslöst, und wer obendrein eine ausgezeichnete Prosa lesen möchte, ist bei diesem Buch richtig.
© Qantara.de 2024
Suzi Ehtesham-Zadeh, Zan, Dzanc Books, Juni 2024