Die neo-osmanische Versuchung
Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende September Kritik am Vertrag von Lausanne äußerte, in dem die Grenzen der modernen Türkei festgelegt worden sind, waren die Nachbarn alarmiert. "Einige haben uns zu täuschen versucht, indem sie den Vertrag von Lausanne als Sieg darstellten. Dabei haben wir in Lausanne Inseln fortgegeben, die so nah sind, dass man hinüberrufen kann", sagte Erdoğan in einer Rede in Ankara mit Blick auf griechische Ägäis-Inseln vor der türkischen Küste. Griechenland warnte daraufhin, niemand sollte das Abkommen von 1923 in Frage stellen, das "eine Realität in der zivilisierten Welt" sei, die niemand ignorieren könne.
Trotz der erzürnten Reaktion der Griechen legte Erdoğan drei Wochen später nach – diesmal mit Blick auf das irakische Mossul. Durch den Vertrag von Lausanne, mit dem die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg die Aufgabe aller Gebiete des Osmanischen Reichs außerhalb der heutigen Türkei akzeptierte, sei "unser Land von 2,5 Millionen Quadratkilometern im Jahr 1914 auf 780.000 Quadratkilometer reduziert worden", sagte Erdoğan. Die Dinge müssten sich ändern, und die Türkei dürfe nicht "die jahrtausendealte Erinnerung an unsere Länder vergessen".
Neues osmanisches Großmachtstreben?
Will die Türkei ernsthaft Anspruch auf frühere osmanische Gebiete erheben? Während Erdoğans Äußerungen bei den Nachbarn Besorgnis auslösten, führten sie in der Türkei zu scharfem Widerspruch in den Reihen der "Republikanischen Volkspartei" (CHP), die sich als Hüterin des Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sieht. Lausanne sei ein "Gründungsdokument" der Türkei, erklärte die CHP-Abgeordnete Gülsün Bilgehan, eine Enkelin von Atatürks Vertrautem Ismet Inönü, der den Vertrag ausgehandelt hatte. Erdoğan sollte mal "ein echtes Geschichtsbuch lesen".
Der Vertrag von Lausanne gilt allgemein als großer Erfolg der Türkei, bedeutete er doch die Revision des Vertrags von Sèvres 1919, der nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg die weitgehende Aufteilung Anatoliens unter Griechenland, Frankreich, Italien und Armenien vorgesehen hatte. In Lausanne waren die europäischen Großmächte dann gezwungen, nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg der türkischen Nationalisten unter der Führung Atatürks die Existenz der modernen türkischen Republik anzuerkennen.
Erdoğans Referenzen an die frühere Größe des Osmanischen Reichs sind nicht neu. Seit der Machtübernahme seiner AK-Partei 2002 ist er bestrebt, die Erinnerung an das Osmanische Reich positiv neu zu besetzen. Sein langjähriger Außenminister Ahmet Davutoğlu, der bis zu seiner Absetzung als Regierungschef im vergangenen Mai die AKP-Ideologie maßgeblich prägte, rückte frühere osmanische Territorien wie die Gebiete des heutigen Iraks und Syriens ins Zentrum der türkischen Außenpolitik und versuchte, die Türkei als regionale Führungsmacht zu positionieren.
Außenpolitische Abenteuer
Viele Beobachter verweisen darauf, dass Erdoğans jüngste irredentistischen Äußerungen vor allem innenpolitisch motiviert seien – wobei ihm viele zugleich vorwerfen, dabei nicht die außenpolitischen Konsequenzen zu bedenken. "Erdoğan sagt, was immer ihm gerade in den Kopf kommt, doch ist Außenpolitik ein Feld, das eine langfristige Vision und minutiöse Planung erfordert", kritisierte der frühere türkische Botschafter Süha Umar im Internetmagazin Al-Monitor. "Sein größter Fehler ist es, Außenpolitik für seine innenpolitische Agenda zu benutzen."
Bei seinen "oft leidenschaftlichen und impulsiven Bemerkungen an ein vorwiegend muslimisches und sunnitisches Publikum" vergesse Erdoğan oft "die Folgen seiner Worte und die Schwierigkeiten, die sie für die Türkei erzeugen werden", schrieb auch der Kolumnist Semih Idiz in Al-Monitor.
Die Worte Erdoğans sorgten bei den Nachbarn auch deshalb für Unruhe, weil der Präsident es nicht bei reiner Rhetorik beließ, sondern sich entschlossen zeigte, notfalls auch im Ausland gegen Bedrohungen der türkischen Sicherheit vorzugehen. Nicht nur intervenierte die Türkei Ende August in Nordsyrien, um die Dschihadisten vom Islamischen Staat (IS) sowie die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) von der türkischen Grenze zurückzudrängen, sondern sie verstärkte vor der Offensive auf die IS-Hochburg Mossul auch ihre Truppen im Nordirak.
In Parlament in Bagdad löste dies wütende Reaktionen aus, woraufhin Ministerpräsident Haidar al-Abadi den Abzug der türkischen Truppen aus dem Irak verlangte. In einem seiner typischen Wutausbrüche forderte Erdoğan ihn jedoch auf, "seinen Platz zu kennen", er sei nicht auf seinem "Niveau". Nicht nur lehnte die Türkei den Abzug ihrer Truppen ab, sondern sie forderte auch ihre Beteiligung an der anstehenden Offensive in Mossul, wobei sie sich als Schutzmacht der Sunniten gegen die schiitischen Milizen aus dem Südirak präsentierte.
Die neue Angst
In ihrer Politik wird die türkische Regierung einerseits angetrieben vom Ehrgeiz, ihre Einflusssphäre in der Region auszuweiten und so die Türkei zu neuer Größe zu führen, andererseits aber von Angst: Angst vor den Dschihadisten, die wiederholt schmerzhafte Anschläge im Land verüben, und Angst davor, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von ihren Rückzugsgebieten im Nordirak und den kurdischen Kantonen in Syrien ihren Kampf in der Türkei ausweitet. In den letzten Wochen schien es, als würde die Angst über den Ehrgeiz dominieren.
In einer Rede am 22. Dezember erwähnte Erdoğan zwar auch „das Leid dessen, was wir in Lausanne verloren haben“, warnte aber vor allem vor einer erneuten Aufteilung der Türkei. "In dieser ernsten Zeit, da es Versuche gibt, die Welt und unsere Region neu zu strukturieren, werden wir uns, wenn wir nicht aufpassen, mit Bedingungen wie in Sèvres konfrontiert sehen", sagte der Präsident. "Die Türkei durchlebt ihren größten Kampf seit dem Unabhängigkeitskrieg", warnte er. Ein Kampf für "eine einige Nation, ein einiges Vaterland, einen einigen Staat".
"In den letzten zwei Wochen hat Erdoğan in seinen Reden drei Mal vor einer Wiederholung des Vertrags von Sevrès gewarnt", sagt der Politikexperte Fuat Keyman vom Istanbul Policy Center. In der Warnung vor einer erneuten Aufteilung der Türkei spiegle sich das Gefühl der Regierung wider, einer "existentiellen Bedrohung" ausgesetzt zu sein. Nicht nur ist sie mit den Anschlägen von PKK und IS konfrontiert, sondern auch mit der Gülen-Bewegung, die die Regierung für den gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli verantwortlich macht.
Angesichts dieser Bedrohung beweist Erdoğan mal wieder, dass er pragmatisch sein kann, wenn es notwendig ist: Nachdem er sich im Sommer bereits zu einer Entschuldigung bei Moskau für den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs an der türkisch-syrischen Grenze im November 2015 durchgerungen hatte, leitete er nun eine Annäherung an den Irak ein.
Kurz vor Jahresende rief Erdoğan Iraks Ministerpräsident Al-Abadi an, dem er noch Wochen zuvor gesagt hatte, dass er nicht auf seinem "Niveau" sei, um den gemeinsamen Kampf gegen den Terror zu besprechen. Und bei einem Besuch in Bagdad Anfang Januar versicherte der türkische Premierminister Binali Yildirim, die türkische Truppenpräsenz bei Mossul richte sich nicht gegen Iraks Souveränität, sondern diene allein dem Kampf gegen die Dschihadisten.
Ulrich von Schwerin
© Qantara.de 2017