Ein Winter der Unzufriedenheit
Sieben Jahre nach dem Sturz von Diktator Ben Ali ist dieser Januar wohl zum heißesten Monat des Jahres geworden – zumindest was die wütenden sozialen Proteste in dem nordafrikanischen Land angeht. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen als Folge der stagnierenden Wirtschaft dienen diese Unruhen den Tunesiern als Messlatte, mit der sie ihre junge Demokratie testen.
Am 7. Januar 2018 versammelten sich junge Mitglieder der neu gegründeten tunesischen Bürgerbewegung Fech Nestannew (zu deutsch: "Worauf warten wir noch?") in der Avenue Bourguiba – einer Straße, die seit dem turbulenten Jahr 2011 für die soziale Protestbewegung im Vorzeigeland des Arabischen Frühlings als symbolträchtiger Ort zählt. Dass Fech Nestannew am 3. Januar gegründet wurde, dem Tag, an dem 1984 in den tunesischen Städten die sogenannten "Brot-Unruhen" ausbrachen, ist kein Zufall. Damals hatte die Regierung von Mohamed Mzali Sparmaßnahmen eingeführt, die sich auf die Preise für grundlegende Bedarfsgüter wie Brot, Nudeln und Speiseöl auswirkten.
Heute könnte sich die Geschichte dadurch wiederholen, dass zur Verringerung des Defizits genau dieselben unpopulären Programme eingeführt werden – also Sparmaßnahmen auf Kosten der schwächsten Bevölkerungsgruppen. So würde sich erneut jene Sackgasse öffnen, in die die tunesische Elite schon einmal geraten ist. Effektive Lösungen für die massiven Probleme, die die Tunesier bereits vor sieben Jahren beschäftigten, müssen allerdings wohl erst noch gefunden werden.
Am 12. Januar 2018 stellten sich Demonstranten am Stadtverwaltungsgebäude von Tunis vor die Sicherheitskräfte und winkten symbolträchtig mit gelben Karten. Damit forderten sie die Behörden auf, das für dieses Jahr geplante, unbeliebte Finanzgesetz nicht zu verabschieden. Sogar UTICA, der Arbeitgeberverband und Friedensnobelpreisträger von 2015, hatte bereits vor den negativen Auswirkungen dieses Gesetzes gewarnt. Ihre Stellungnahme war ein böses Omen für die nachfolgenden Unruhen.
Eine "schmerzhafte Entscheidung" der Regierung
Ministerpräsident Youssef Chaheds Regierung, die sowohl von Seiten der Bevölkerung als auch von der politischen Opposition scharf kritisiert wurde, verteidigte die Sparmaßnahmen im Parlament als eine schmerzhafte Entscheidung, die aber wegen der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage nötig sei.
Tatsächlich steht Chaheds Regierung in diesem Jahr vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Gründe dafür sind der rapide fallende tunesische Dinar (der im Januar einen Stand von 0,33 Euro erreichte), abnehmende Fremdwährungsreserven, die auf 40 Prozent des BIP gestiegene Auslandsverschuldung und nicht zuletzt die zunehmende Inflation, die Ende 2017 bei 6,3 Prozent lag.
Nach der Verabschiedung des jüngsten Finanzgesetzes wird die härteste Probe für Chahed in diesem Jahr darin bestehen, die Wut der Bevölkerung zu besänftigen – die unter steigenden Steuern für fast alle Güter leidet (mit Ausnahme der staatlich subventionierten). Mit diesen neuen Preissteigerungen versucht die Regierung das Handels- und Haushaltsdefizit auszugleichen und eine – wenn auch magere – Wachstumsrate von bis zu drei Prozent zu erreichen.
Die Mehrheit der Tunesier ist der Ansicht, dass die Korruption seit 2011 zugenommen hat. Trotz der allgemeinen öffentlichen Zufriedenheit mit Chaheds "Krieg gegen die Korruption" beklagen die Bürgerrechtsorganisationen, die sich diesem Kampf verschrieben haben, dass es der Regierung immer noch an Verantwortlichkeit, Transparenz und Zusammenarbeit fehlt. Für das Vertrauen zwischen den Tunesiern und ihrer Regierung ist dies ein erhebliches Hindernis, das sich seit dem Beginn der jüngsten Welle von Unruhen noch verschärft hat.
Furcht vor der Wiederkehr des autoritären Staates
Indes beschuldigten sich Regierung und Opposition gegenseitig, für die gewalttätigen Zusammenstöße verantwortlich zu sein. Und seit die Proteste auch von Vandalismus geprägt sind, werden sie zunehmend auch von der Regierung „dämonisiert“. Hinzu kommt, dass die Medien über die Ereignisse recht voreingenommen berichten, was wiederum von der Medienregulierungsbehörde kritisiert wird.
Das harte Vorgehen der tunesischen Sicherheitskräfte hat mittlerweile in Tebourba am Stadtrand von Tunis zum Tod eines Demonstranten geführt, was international verurteilt wurde. All dies offenbart, was viele in Tunesien immer gefürchtet haben: dass alte, repressive Gepflogenheiten nicht leicht zu überwinden sind.
Am 13. Januar kündigte die Essebsi-Verwaltung an, die Sozialleistungen für die 120.000 bedürftigsten tunesischen Familien um 70 Millionen tunesische Dinar (23 Millionen Euro) zu erhöhen. Dieser Versuch, am siebten Jahrestag der tunesischen Revolution die wütende Bevölkerung zu beruhigen, stellt eine weitere Strategie dar, den gegen das Finanzgesetz protestierenden Tunesiern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch ob dieser Versuch angesichts der brisanten Lage des Landes wirklich ausreicht, um für Ruhe zu sorgen und den sozialen Frieden wiederherzustellen, gilt als überaus ungewiss.
Houda Mzioudet
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff