Ein Riss geht durch das Land
Oben an der Fassade sind noch die Einschusslöcher zu sehen, unten empfängt Nuran Imir in einem kargen Raum, der notdürftig wieder hergerichtet worden ist. Das Gebäude der "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) war bei der Belagerung von Cizre vor zweieinhalb Jahren schwer beschädigt worden, alle anderen Gebäude der prokurdischen Partei wurden bei den Kämpfen im Herbst und Winter 2015 zerstört, wie die örtliche HDP-Kandidatin erklärt. Heute ist in der Stadt an der syrischen Grenze nur noch wenig von den Zerstörungen zu sehen, die die wochenlangen Gefechte mit der PKK-Guerilla hinterlassen haben. Dafür gibt es auffallend viele neue Gebäude.
Die Regierung wolle vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni zeigen, dass sie etwas für Cizre tue, sagt Imir. Doch noch immer müssten sich viele Familien eine Wohnung teilen, ein Drittel der Bevölkerung sei nicht zurückgekehrt. "Die Verletzungen sind noch immer groß. Sie können sich nicht im Traum vorstellen, was die Menschen hier während der Belagerung erlebt haben", sagt die HDP-Kandidatin. Rund 70 Prozent mancher Viertel von Cizre seien zerstört worden, 10.000 Familien hätten bei den Kämpfen 2015 ihre Wohnung verloren.
Der Zusammenbruch des Friedensprozesses
Nachdem im Juli 2015 der zweijährige Friedensprozess mit der PKK zusammengebrochen war, hatte die kurdische Rebellengruppe in Städten wie Cizre, Sirnak, Nusaybin und Diyarbakır Gräben ausgehoben und "autonome Zonen" ausgerufen. Die Regierung schritt mit großer Härte gegen den Aufstand ein und brachte die Städte nach wochenlangen Gefechten wieder unter ihre Kontrolle. Allein in Cizre wurden dutzende PKK-Kämpfer getötet, viele davon Jugendliche, zahlreiche Zivilisten verbrannten in Kellern. Zurück blieben völlig zerstörte Viertel.
Die Leute wollten Frieden, sie wollten Veränderung, doch Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP hätten nur mehr Unterdrückung für die Kurden gebracht, sagt Imir auf Deutsch. Die 41-Jährige ist seit ihrer Jugend in der kurdischen Bewegung aktiv, 2003 musste sie wegen ihrer politischen Arbeit nach Deutschland fliehen, doch für die Wahlen 2015 kehrte sie in die Türkei zurück. Bei der Parlamentswahl tritt sie nun für die HDP in Cizre an. "Wir sehen die Wahl als letzte Chance nicht nur für die Kurden, sondern auch für Millionen andere Türken", sagt Imir.
Draußen vor dem Fenster sind Trommeln zu hören und die HDP-Kandidatin gibt das Zeichen zum Aufbruch. Mit zwei Dutzend Unterstützern zieht sie die Hauptstraße von Cizre hinunter, umarmt hier eine Passantin, schüttelt dort einem Verkäufer die Hand. Ihre Begleiter verteilen Flugzettel, die Frauen stoßen trillernde Schreie aus, schlagen die Trommeln und rufen Slogans. Ein normaler Wahlkampfrundgang scheint es, doch normal ist in diesem Wahlkampf nichts.
Kontrolle und Gängelung
Vor dem Aufbruch hat Imir zuerst die Genehmigung der Polizei einholen müssen, kaum irgendwo kann die HDP frei auftreten, ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş kann sich ohnehin nicht öffentlich äußern, da er im Gefängnis sitzt. "Bei jeder Reise in die Provinz gibt es Kontrollen durch die Polizei", sagt Mehmet Serif Camci, HDP-Vorsitzender für Diyarbakır. Ihre Plakate würden abgehängt, ihre Kundgebungen blockiert, 14 Mitarbeiter seien schon festgenommen worden. In den Medien werde die HDP fast komplett ignoriert, kritisiert Camci.
In Diyarbakır sind die Spannungen nicht sofort sichtbar, doch ein Rundgang durch Sur, das historische Zentrum oberhalb des Tigris, zeigt, wie tief auch hier die Verletzungen des Kurdenkonflikts sind. Auf dem Platz vor der Großen Moschee erscheint zunächst alles normal – um die Stände mit Wassermelonen und getrockneten Aprikosen drängen sich die Menschen, die Teehäuser sind voll, die Goldgeschäfte im Basar sind geöffnet. Doch geht man einige Meter die Gassen entlang, stößt man auf eine hohe Mauer aus Betonplatten – dahinter Stille.
Jenseits der Mauer erstreckt sich eine weite Brachfläche, staubig, verlassen und von Unkraut überwachsen. Nur einige Polizisten patrouillieren zwischen den Schutthügeln, die einmal Wohnhäuser waren. Das Viertel war bei dem Aufstand 2015 schwer beschädigt worden, mit Ausnahme der Moscheen ließ die Regierung alles abreißen. Die Einwohner wurden enteignet und in staatliche Wohnblöcke am Stadtrand umgesiedelt. Erst langsam beginnt der Wiederaufbau. "Die Regierung hat 10.000 Jahre Geschichte in Sur zerstört", kritisiert der HDP-Politiker Camci.
"Die Menschen wünschen sich nichts mehr als den Frieden"
Doch nicht alle Einwohner sehen das so. Für die AKP-Anhänger bei einer nächtlichen Wahlkampfveranstaltung, ist nicht die Regierung, sondern die PKK und die HDP für die Zerstörungen verantwortlich. "Die HDP hat ihre Verbindungen zur PKK nie abgebrochen, und auch den Grabenkrieg hat sie unterstützt, der viele Tote hinterlassen hat", sagt ein Lehrer bei der Veranstaltung vor der örtlichen AKP-Zentrale in Diyarbakır. "Die AKP dagegen hat in den letzten 15 Jahren viel geleistet, die Wirtschaft und gesellschaftliche Situation hat sich sehr positiv entwickelt."
In der Tat hat die AKP die Infrastruktur in den Kurdengebieten im Südosten massiv ausgebaut. Am Rande von Diyarbakır errichtet die staatliche Wohnungsbaugesellschaft Toki derzeit ein riesiges Wohnviertel mit dutzenden Appartmentblocks, zwischen den Provinzzentren verlaufen vierspurige Schnellstraßen, selbst in Batman, Sirnak oder Mardin gibt es neue Flughäfen. Auch im sozialen und kulturellen Bereich hat die AKP in ihren ersten Regierungsjahren den Kurden viele Fortschritte gebracht, doch seit dem Abbruch des Friedensprozesses ist die Entwicklung rückläufig.
Für Mehmet Mehdi Eker ist an der erneuten militärischen Eskalation und der politischen Verhärtung aber vor allem die PKK schuld. "In Diyarbakır wünschen sich die Menschen nichts mehr als Frieden", sagt der örtliche AKP-Kandidat nach der nächtlichen Wahlkampfkundgebung. Frieden könne aber nur erreicht werden, wenn die "Terroristen" besiegt würden. Mit ihnen lasse sich nicht verhandeln, das habe der Friedensprozess gezeigt, sagt der 62-Jährige. Die AKP habe es versucht, doch die PKK habe alle Gespräche "sabotiert und vergiftet".
Vor den Wahlen hat Erdoğan eine neue Militäroperation gegen die PKK-Lager in den Kandil-Bergen im Nordirak begonnen. Der Präsident gibt sich entschlossen, der PKK-Führung den Garaus zu machen, doch Experten bezweifeln, dass dies der türkischen Armee in dem unzugänglichen Gebirgsterrain gelingt. "Natürlich ist das vor allem ein Versuch, nationalistische Wähler zu gewinnen", sagt der HDP-Vertreter Camci. An eine Beruhigung nach der Wahl oder gar einen neuen Friedensprozess glaubt er nicht. "Alle Zeichen sprechen dagegen. Daher muss Erdoğan weg."
Ulrich von Schwerin
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