Das Innere nach außen gekehrt
Im Nachgang zu 9/11 rief man das Kulturaustauschprogramm "west-östlicher Diwan" mit dem Ziel ins Leben, den interkulturellen Dialog zwischen deutschen und arabischen Intellektuellen und Autoren zu fördern.
Der populäre und in zahlreiche Sprachen übersetzte libanesische Autor Rashid al-Daif verbrachte 2003 einige Wochen in Deutschland zu Besuch bei Joachim Helfer, einem jüngeren, weniger bekannten und bis dato nicht übersetzten deutschen Schriftsteller. Joachim Helfer verbrachte im Gegenzug einige Zeit mit al-Daif im Libanon.
Neben acht weiteren Romanen, die alle übersetzt wurden, wurde al-Daif vor allem durch seinen Roman "Lieber Herr Kawabata" bekannt, der über den Bürgerkrieg im Libanon handelt. Helfer ist ein 1964 geborener deutscher Autor, der bislang drei Romane veröffentlicht hat.
Die Erfahrungen aus dem kulturellen Austausch veranlassten al-Daif zu einer literarischen Abrechnung mit Helfers Homosexualität. Diese Abrechnung wurde von der Kritik wechselweise als präzise, naiv, ehrlich oder einfach nur als beleidigend beurteilt. Helfer veröffentlichte seinerseits eine detaillierte Erwiderung.
Verstörende Mischung aus Fiktion und Essay
Beide Darstellungen (neben literarischen Einordnungen im Nachwort) bilden den Text von "What Makes a Man?", der dieses Jahr zusammengestellt und ins Englische übersetzt worden ist. Das Ergebnis ist nicht nur eine eigenartig verstörende Erkundung fest verwurzelter Positionen zu Geschlecht, Sexualität und Heteronormativität über kulturelle Grenzen hinweg, sondern auch eine verstörende Mischung aus Fiktion und Essay als Mittel, den "Anderen" zu verstehen.
Nach den gegenseitigen Besuchen veröffentlichte al-Daif im Alleingang "Wie der Deutsche zur Vernunft kam" auf Arabisch. Hierzu wählte er die Form einer "romanhaften Biographie". Er sieht darin die Erzählung seiner Begegnung mit Helfer und einen Dialog mit dessen Kultivierung von Sexualität: einer bekennenden Homosexualität und einer gelebten Bisexualität.
Zur Wahrung der thematischen Einheit erweiterte und modifizierte er seine Darstellung. Doch schildert al-Daif seiner arabischen Leserschaft nicht nur, wie ein deutscher Autor aus seiner Sexualität Kapital schlägt. Vielmehr reflektiert der Autor auch humorvoll über arabische Ansichten von Männlichkeit und männlicher Sexualität.
Blick auf die Homophobie in der arabischen Welt
Al-Daif geht sogar so weit, sein Inneres nach außen zu kehren und einen Dialog über eine angestrengte arabische Männlichkeit zu führen, die einfach lächerlich und peinlich ist. Beispielsweise nimmt er die Nachricht von der Homosexualität Helfers zunächst achselzuckend zur Kenntnis, um anschließend in eine übersteigerte Angst vor künftigen Begegnungen zu verfallen und das zu übernehmen, was für ihn arabisch homophobe Bedenken über die Nähe zu Schwulen und deren Sexualität sind.
So lässt er sich seitenlang über den Stolz des arabischen Mannes auf seine Körperbehaarung und die damit verbundene Begehrtheit aus. Daraus leitet er seine Angst ab, Zielscheibe für Helfers zügelloses Verlangen zu werden.
Einerseits setzt sich al-Daif offen mit der tiefen Verwurzelung der Homophobie in der arabischen Kultur auseinander, indem er seiner arabischen Leserschaft die absurde Furcht der Heteros vor Augen führt. Andererseits entlarvt diese zugegebenermaßen ehrliche Auseinandersetzung die arabische Kultur als durch und durch homophob, maskulinistisch und ungehobelt, zumindest was Männer angeht.
In seiner empörten Replik auf al-Daifs Darstellung beschreibt Helfer im zweiten Teil des Buchs Rashid al-Daif akribisch als jemanden, der weder die leiseste Ahnung von der schwulen Subkultur Beiruts noch von den damit verbundenen feministischen Bewegungen hat. Während al-Daif eine dominante homophobe Position bezieht und damit ein schwules Begehren und eine unkontrollierbare Homosexualität antizipiert, weist Helfer mit seinen Erwiderungen pointiert auf unterschiedliche Formen der Männlichkeit und Sexualität in al-Daifs eigener Stadt hin – nämlich in Beirut.
Der zweite Teil des Buchs, in dem Helfer detailliert auf die von al-Daif mutmaßlich angeführten Punkte eingeht, wirft die Frage auf, was das Buch eigentlich will: einen direkten und unmoderierten Dialog.
Helfer lässt al-Daifs Text nicht so stehen, wie er veröffentlicht wurde. Stattdessen gliedert er ihn in Absätze und wählt diese gezielt für pointierte, spöttische und gereizte Entgegnungen aus. Da Helfer seine Kommentare nachträglich einfügte, behält er das letzte Wort, ohne dass al-Daif die Chance auf Entgegnung hatte.
Hinzu kommt, dass al-Daifs Text ein literarisches Werk ist und seine Begegnung mit Helfer beschreibt. Helfers Kommentare sind eher eine rhetorische Disputation, die einem philosophischen Essay gerecht würde. Beide Genres passen nicht recht zusammen. Das Buch wirkt unausgewogen. Diese Unausgewogenheit resultiert allerdings nicht nur aus dem fehlenden Dialog und der Inkongruenz der Genres.
Scharfe Entgegnung statt direkter Dialog
Ebenso wie in al-Daifs Texten gibt es auch in Helfers Texten einige peinliche Passagen. Doch sie alle betreffen den aufgeklärten Westen und sein Gegenstück, den vermeintlich rückständigen Nahen Osten. Dadurch entsteht eine plakative Einordnung: hier die Deutschen, dort die Araber, hier sexuell Befreite, dort sexuell Unterdrückte, hier absolute Gleichheit, dort Patriarchat.
Diese Hierarchie errichtet Helfer jedoch auf einem schwachen Fundament: Die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften in Deutschland zieht nicht automatisch die soziale Anerkennung nach sich. Zudem beruht die soziale Anerkennung häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation und gesellschaftlichen Schicht. So sehr Helfer das utopische Ziel festgefügter Identitäten in Deutschland vermitteln möchte, so sehr unterdrückt er die dortigen gesellschaftlichen Unterschiede.
Al-Daifs Titel "Wie der Deutsche zur Vernunft kam" macht es leicht, Sympathien für Helfer zu entwickeln: Nach einer jahrelangen Beziehung mit seinem männlichen Partner geht Helfer eine neue Beziehung mit einer Frau ein, was von al-Daif als Rückkehr zur Vernunft ausgelegt wird.
Auch die Reduzierung eines anerkannten Autors auf seine Homosexualität weckt Verständnis für Helfer – bis zu dem Punkt, wo dieser anfängt, der gesamten arabischen Welt Stereotype zuzuschreiben, die er aus seinem kurzen Aufenthalt in Beirut ableitet.
Möglicherweise ahnte al-Daif schon, was auf ihn zukommen würde, als er zu Anfang seines Textes schrieb, Sexualität sei "der Kriegsschauplatz zwischen arabischer Tradition und westlicher Moderne".
Dieses Buch legt nahe, dass Sexualität eine Waffe zum Zerstören ebenso wie zum Aufbauen neuer kultureller Identitäten sein kann. Der kulturelle Austausch hat nicht unbedingt zur Aufklärung beigetragen. Aber zumindest war er unfreiwillig ungeschminkt – und daher streckenweise recht schmerzhaft.
Nahrain Al-Mousawi
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen Peter Lammers
"What Makes a Man?: Sex Talk in Beirut and Berlin" von Rashid al-Daif und Joachim Helfer. Übersetzt von Ken Seigneurie und Gary Schmidt, University of Texas Press, 2015, 300 Seiten