Im Regen stehen gelassen
Rahaf Abu Assi lebte mit ihrer Familie in ihrem Haus in Rafah im Süden des Gazastreifens, als der Sturm Huda die Enklave an der Küste mit voller Wucht traf. Ihr Haus wurde bereits während der israelischen Offensive vom vergangenen Sommer teilweise zerstört. Palästinensische Medien berichteten, dass Rahaf nach dem Sturm an Lungenproblemen starb, die durch das kalte Wetter hervorgerufen wurden. Sie war erst zwei Monate alt. Noch zwei weitere Säuglinge und ein 22-jähriger Fischer ließen aufgrund der extremen Wetterbedingungen in Gaza ihr Leben. Mindestens 49 transportable Notunterkünfte wurden überflutet, viele Menschen mussten wegen der Überschwemmungen evakuiert werden.
Nicht weniger als 600.000 Wohnungen und Häuser wurden im Verlauf der israelischen Militäraktion im letzten Jahr beschädigt. Insgesamt leben rund 1,8 Millionen Menschen im Gazastreifen. Ende 2014 berichtete das UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA), dass noch immer 100.000 Menschen obdachlos seien. Mehr als vier Monate nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes geht der Wiederaufbau nur schleppend voran. Und nur ein sehr geringer Teil der Hilfsgelder in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar, die bei der Kairoer Geberkonferenz im letzten Oktober bewilligt wurden, ist bislang angekommen.
In Khuza, im südlichen Teil des Gazastreifens, ist das Erdgeschoss von Umm Fadi Al-Najjars Haus die einzig intakte Wohnung in einer ansonsten komplett verwüsteten Straße. Die Familie mit ihren drei Kindern lebt in einem Teil des Hauses, den sie vom Schutt befreit haben und mit dem wenigen Mobiliar ausstatten konnten, das ihnen noch geblieben ist. Wo früher noch Türen und Fenster zu sehen waren, schützen nun aufgehängte Teppiche vor Wind und Kälte.
Im Haus sitzt Umm Fadi vor einem Feuer und backt Brot auf einem metallenen Backblech. "Wir brauchen doch nur unser Haus zurück. Wie können wir ohne Wohnung leben? Was können wir denn überhaupt noch ohne ein Dach über dem Kopf tun?", fragt sie verzweifelt. Die meisten Anwohner der Straße sind in Notunterkünfte gezogen, die in einem nahe gelegenen Lager errichtet wurden, umgeben von einer provisorischen Barriere aus aufeinandergestapelten Sandsäcken, die das Wasser abhalten sollen.
Bei dem militärischen Konflikt vom vergangenen Sommer – der tödlichste für den Gazastreifen seit 1967 – wurden mindestens 2.145 Menschen getötet, darunter 581 Kinder. Mehr als 113.500 Häuser und Wohnblocks wurden getroffen und teilweise zerstört, mindestens 22.000 dieser Gebäude waren danach unbewohnbar.
Das Problem des "Wiederaufbau-Mechanismus"
Im letzten Oktober vermittelten die Vereinten Nationen ein Abkommen zwischen der palästinensischen und der israelischen Regierung, das unter dem Namen "Gaza-Wiederaufbau-Mechanismus" bekannt wurde. Ziel war es, die Anstrengungen für den Wiederaufbau zu intensivieren, wobei gleichzeitig auch den Sicherheitsbedürfnissen Israels entsprochen werden sollte. Der israelischen Führung sind vor allem die sogenannten "doppelt verwendbaren" Materialien – wie etwa Zement, Schotter und Stahlschienen ein Dorn im Auge, da sie auch für die Wiederinstandsetzung der zerstörten Tunnel unter der Grenze oder für den Raketenbau verwendet werden könnten.
Seit die Hamas im Jahr 2007 an die Macht kam, beschränkte Israel den Handel mit diesen Gütern im Rahmen der Blockade und kontrollierte auch die Bewegungsfreiheit der Bürger bei der Ein- oder Ausreise aus dem Gazastreifen.
Nicholas Hercules, Direktor des UNDP-Büros in Gaza, der gemeinsam mit der Flüchtlingsagentur UNRWA verantwortlich für die Schadensfeststellung ist, räumte vor Kurzem ein, dass "bislang nur sehr wenige Fortschritte beim Wiederaufbau gemacht" wurden. Während die Familien, deren Häuser als komplett zerstört oder unbewohnbar eingestuft wurden, Mietbeihilfen erhalten, bekommen diejenigen Besitzer oder Mieter nur leicht beschädigter Wohnungen lediglich UN-Gutscheine, um sich im Rahmen des Wiederaufbau-Mechanismus Baumaterialien zu kaufen.
Zement als Mangelware
Das Abkommen schreibt vor, dass die palästinensische Regierung Baumaterialien von zuvor genehmigten Lieferanten erwirbt. Das Material wird dann in gesicherten Lagerhäusern aufbewahrt und verteilt. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten und Wohnungswesen veröffentlicht die Namen der Personen, die berechtigt sind, Zement zu kaufen, wobei diese zuvor einer eingehenden Überprüfung unterzogen werden, die von allen Seiten bestätigt werden muss. Alle Materialien werden registriert, ihr Weg kann so mit Hilfe einer Datenbank nachvollzogen werden, auf die auch die israelischen Behörden Zugriff haben.
Schätzungen zufolge benötigt der Gazastreifen nach Kriegsende jeden Tag durchschnittlich sechs Tonnen Zement zum Wiederaufbau. Allerdings sind bis Ende Dezember 2014 erst rund 18 Tonnen nach Gaza gekommen. Und gegenwärtig gelangt noch weniger Zement dorthin als in den drei Monaten vor dem Konflikt. Moffed Al-Hassina, palästinensischer Minister für Infrastruktur und Wohnungswesen, kommt in einem Gespräch mit Qantara.de zu folgender Einschätzung: "Angesichts dieses Tempos wird es wohl 20 Jahre dauern, bis der Gazastreifen wieder aufgebaut sein wird."
Der Wiederaufbau-Mechanismus wurde deshalb oft scharf kritisiert. Die Entwicklungsorganisation Oxfam etwa verlautbarte, dass dieser Mechanismus nicht als Ausrede dazu dienen könne, die Blockade des Gazastreifens aufrechtzuerhalten. "Ohne dass die Geberländer Druck ausüben, um auf ein Ende der Blockade hinzuwirken, werden viele der durch den jüngsten Konflikt obdachlos gewordene Kinder bereits Großeltern sein, bis ihre Häuser und Schulen wieder aufgebaut sein werden", erklärte die regionale Direktorin von Oxfam, Catherine Essoyan.
In Shejaia, einem Viertel in Gaza-Stadt, bergen der 17-jährige Ahmad und seine Brüder Kacheln aus dem Obergeschoss ihres stark beschädigten Hauses, ebenso wie alles andere, das möglicherweise wiederverwertet werden könnte. Nur wenige Meter entfernt treffen sich Mohammed al-Areir und seine Arbeiter, um Reparaturen an einem Haus vorzunehmen. Es ist das Haus seines Bruders, sein eigenes wurde im letzten Sommer dem Erdboden gleichgemacht. Mohammeds Bruder wurde am 20. Juli getötet, als das dicht besiedelte Stadtviertel eines der schwersten Gefechte des gesamten Krieges erlebte.
Blühender Schwarzmarkthandel
"Ich habe bereits Baumaterial beantragt, doch ich muss leider noch warten, um etwas zu bekommen", erzählte er. "Es steht zu befürchten, dass der Winter noch kälter wird. Deshalb bin ich nun gezwungen, die Baustoffe aus eigener Tasche zu bezahlen. Man kann zwar auch Zement finden, doch der ist eben sehr teuer."
Laut Maher Khalil, dem Manager des Shamali-Lagerhauses, kommen jeden Tag hunderte Menschen dorthin, weil sie hoffen, dort den Zement zu erhalten, den sie zum Wiederaufbau ihrer Häuser benötigen. "Sie kommen zu uns, um nachzuschauen, ob ihr Name vielleicht auf der Warteliste steht und ob es neuen Zement gibt", berichtet er.
Überwachungskameras kontrollieren jede von den UN vermittelte Transaktion innerhalb des Gebäudes, doch nur wenige Meter vom Eingang entfernt wird ein Teil des Zements aufgekauft und von "Händlern" auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft, wo die Preise für einen 50-Kilogramm-Sack auch schon umgerechnet 36 Euro betragen können. Der offizielle Preis im Lagerhaus liegt rund sechs Euro.
"Einige Leute, die nicht auf die Vereinten Nationen warten wollten und den Zement aus eigener Tasche bezahlt haben, holen sich auf diese Weise ihr Geld zurück. Andere wiederum haben kein Geld, um Zement zu kaufen und ihre Häuser aufzubauen. So verkaufen sie es, um die Arbeiter zu bezahlen, Schulden zu begleichen und andere Dinge zu zahlen, die nötig sind", erzählt Khalil. Die britische Tageszeitung "The Guardian" hat auch von Anschuldigungen berichtet, dass Beamte bestochen wurden, um Bezugsscheine ausgestellt zu bekommen.
Ylenia Gostoli
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol