Mit Netflix gegen den türkischen Macho
Es war zu erwarten: Der weltweit größte, US-amerikanische Streaming-Anbieter – mit inzwischen rund 207 Millionen Abonnenten, davon ca. 1,5 Millionen in der Türkei – erobert den türkischen Markt. Pelin Diştaş von Netflix, verantwortlich für die TV-Produktionen sagt: "Die Türkei ist eines der wichtigsten kreativen Zentren für großartige Geschichten, die auf der ganzen Welt Anklang finden. Deshalb erhöht Netflix seine Investitionen in neue Originalfilme“.
So wurden im Oktober letzten Jahres allein für 2021 rund 14 neue Film- und Serientitel angekündigt. Anvisiert ist ein weltweiter Markt in mehr als 190 Ländern, bei denen nur Syrien und China fehlen.
Eine wachsende Zahl von Zuschauern will mehr Geschichten und mehr Serien. Es sei denn, das türkische Kultusministerium funkt dazwischen und verlangt Änderungen. So wie im letzten Jahr als es um die Rolle einer schwulen Hauptfigur ging und das Ministerium die die Streichung der Rolle wollte. Netflix gehorchte nicht. Die Serie If Only wurde nicht gedreht.
Aus Dramen des Alltags werden "großartige Geschichten“
Doch wie konnte es dazu kommen, dass dieser Reichtum an Geschichten und Talenten im europäischen Westen bisher so wenig wahrgenommen, ja unterschätzt wurde? Hatte sich der türkische Alltag nicht schon immer als leidenschaftliches Drama inszeniert, garniert mit Klageliedern, bewegenden Zärtlichkeiten und rauer Gewalt. So bietet eine zehnstündige Busreise, sagen wir von Trabzon nach Ankara, Stoff für mindestens ein Film-Drehbuch.
Aber auch aus dem fernen Deutschland können wir verfolgen, wie sich die türkische Innenpolitik immer häufiger in spannende Krimis verwandelt. Der im Augenblick über YouTube-Videos ausgetragene Streit zwischen dem aus der Türkei geflohenen, vorbestraften Mafioso Sedat Peker und Innenminister Süleyman Soylu über angebliche Freundschaftsbeziehungen, (Stichwort: derin devlet/der tiefe Staat) hält die türkische Nation in Atem, wurde zum Quotenhit. Nicht anders die öffentliche Suche nach Geldern der Zentralbank, die offensichtlich verschwunden sind – immerhin eine Summe von 128 Milliarden Dollar!
"Reality surpasses fiction" – die Fiktion wird von der Realität überholt – wie es unter Doku- Filmemachern oft heißt. Dass diese bunte Gemengelage nun den Grundton vieler TV-Produktionen abgibt, Motive für spannende Geschichten, wen wundert’s?
Mit Fatma "dem Alltag entfliehen“?
Noch bis Anfang 2000 wirkten türkische Autorenfilme (z.B. von Zeki Demirkubuz, Reis Çelik, auch Yeşim Ustaoğlu) wie Nachrichten aus einer sich selbst genügenden Welt. Und in der Türkei hatte viel zu lange eine Filmkultur das Sagen, die in ihrem Antiamerikanismus die Erzähltraditionen und cineastische Kunst z.B. eines Martin Scorsese oder Jim Jarmusch nicht wahrnehmen wollte.
So dominierten über Jahre auf den unzähligen türkischen Filmtagen quer durch Deutschland der "linke“, ideologisch korrekte "Kunstfilm“ oder eben arabeske Komödien. Und in den Begleitveranstaltungen ging es folgerichtig mehr um Integration und Sozialpädagogik als um Filmkunst.
Damit legte sich lange ein verstaubtes Wahrnehmungskorsett über das türkische Filmschaffen und seine Rezeption, das die diverse, bunte Lebenswirklichkeit eines rasanten bis explosiven Wandels im türkischen Alltag übersah.
Mit Nuri Bilge Ceylan, Semih Kaplanoğlu (Goldener Bär auf der Berlinale 2010 für seinen Film Bal) und anderen Regisseuren bahnte sich etwas Neues an: eine in die Tiefe gehende Suche nach den Fliehkräften, die in der türkischen Gesellschaft und bei ihren Protagonisten wirken (z.B. Nuri Bilge Ceylans Once upon a time in Anatolia).
Daher auch das Schwärmen von Netflix über "großartige Geschichten für den Zuschauer“, die "mit einer ständig wachsenden Anzahl neuer Originalfilme … dem Alltag entfliehen können.“ Oder sollten wir besser sagen – erst in ihn eintauchen?
Fatma und ihre Peiniger
Der Serienplot von "Die Rache der Fatma“ ist einfach gehalten. Dafür faszinieren großartige Schauspieler und ein Set mit feinsten Ausstattungsdetails. Da ist die Hauptfigur Fatma (von Burcu Biricik großartig gespielt) in ihrer Unscheinbarkeit, mit verbittert entschlossenem Gesicht, Mutter eines autistischen Sohnes. Ihre Suche nach dem Ehemann Zafer, der nach einer verbüßten Gefängnisstrafe spurlos verschwunden ist, führt sie in das Gestrüpp eines grellen Mafia-Milieus.
Wir begegnen dem Mafioso Bayram (Mehmet Yılmaz Ak), der in einem dieser Işhans (meist ein mehrstöckiger Büro- und Geschäftskomplex) residiert, in dem sich hinter jeder Tür eine andere Branche, ein anderes Geschäftsmodell verbirgt.
Dann ist da noch, als Kontrapunkt zu dieser Halbwelt, der alternde, intellektuelle Schriftsteller (Ugur Yücel, selbst auch Filmautor/Regisseur), der das Lebensdrama von Fatma – sie putzt seine Wohnung – zu einem neuen Roman verarbeiten will.
Wir folgen Fatma an ihren Arbeitsplatz zum heroinabhängigen Manager der Einkaufs-Mall (gespielt vom grandiosen Darbuka-Trommler Burhan Öcal), der eine junge Frau sexuell quält und peinigt. Sie trifft auf Rechtsanwälte und skrupellose Bauherren, wehrt sich gegen den Nachbarn, der sie als „Freiwild“ betrachtet. Und da ist eine Pistole, die Fatma aus dem Safe des Mafioso Bayram entwendet…
Fatma und ihr Dorf
Wie in vielen anderen Serien spielt auch bei Fatma das Dorf eine wichtige Rolle: Hier hofft sie, die Traumata der Kindheitstage auflösen zu können – und ihren Mann wiederzufinden. "Götürün beni dogduğum köye - bringt mich zurück ins Dorf, wo ich geboren wurde“ – heißt es im populären Lied des kürzlich verstorbenen Sängers Derdiyoklar Ali. Klagend besingt er ein Motiv, das die moderne türkische Gesellschaft noch heute prägt. In den Städten begegnen wir unzähligen Heimatvereinen, die das Dorf im Vereinsnamen tragen.
Ihre Mitglieder zieht es in den Sommermonaten in die Dörfer auf der Suche nach den Gerüchen, Traditionen, dem Licht der Kindheit – und wenn möglich, bestatten sie auch hier ihre Verstorbenen. Dieser Sehnsucht liegt das Gefühl einer Entwurzelung zugrunde, das eine Folge der noch heute anhaltenden Binnenmigration aus dem ländlichen Osten, aus den Dörfern in die Städte ist. Begreifen wir diese Gefühle, können wir auch Fatma besser verstehen. Denn Hypotheken dieser Art geben auch anderen TV-Serien ihren realen Hintergrund.
Fatmas Rache – und die Istanbul-Konvention
Nach Recherchen der Plattform "Wir werden Frauenmorde stoppen" wurden in der Türkei im vergangenen Jahr 300 Morde an Frauen registriert, 171 weitere Todesfälle als "suspekt" eingestuft, darunter auch angebliche Selbstmorde. Die Strafverfolgung der Mörder, die Ahndung von Vergewaltigern und von sexuellem Missbrauch ist schleppend und nachlässig.
Seit Jahren trägt daher die türkische Frauenbewegung ihren Protest auf die Straßen der Städte. Sie hoffte auf Rückhalt durch die Istanbul-Konvention des Europarats. Darin hatten sich im Jahr 2014 die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, gesetzliche Rahmenbedingungen für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu schaffen. Doch der jüngste Beschluss der Regierung Erdogan, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, hat Entsetzen und Angst unter den Frauen ausgelöst.
Dass auf diesem Hintergrund die Netflixserie Fatma, eine aktuelle, ja fast programmatische Bedeutung erhalten hat, war nicht vorherzusehen. Denn mit ihr wurde eine Frau zur Heldin, die Demütigungen, Bedrohungen und sexuelle Belästigungen auf harte Weise bestraft. Wie konnte das den staatstragenden, „loyalen“ Medien (ironisch als yandaş media bezeichnet) und dem väterlichen „Reis“, dem Staatspräsidenten, entgehen?
Jochen Menzel
Mitarbeit: Gülseren Suzan
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