Die schmutzige Wahrheit des Krieges
Es gibt Geschichten, die erhalten ihre Bedeutung nicht durch das, was sie erzählen, sondern wie und wann sie es erzählen. Die von der Internet-Plattform "Wikileaks" veröffentlichten Tagebücher des Kriegs in Afghanistan gehören dazu.
Denn für den Krieg gilt im besonderen Maße der Satz des Philosophen George Berkeley: "Sein heißt wahrnehmen" (Lat. Esse est percipi). Was wir nicht wahrnehmen, existiert nicht in unserer Welt. Und es ist das Ziel jeder Kriegspropaganda, einige Fakten zum Verschwinden zu bringen.
Stets bemühen sich die, die einen Krieg führen, gewisse Geschehnisse vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nichts anderes heißt es, ein Dokument als "streng geheim" zu klassifizieren. Denn auch der moderne Krieg und sogar der, für den es gute, humanitäre Gründe geben mag, ist ein Krieg. Und das bedeutet, Menschen zu töten, die man als Feinde identifiziert hat. Menschen zu töten, setzt voraus sie zu entmenschlichen und dieser Vorgang entmenschlicht auch die Täter.
Ein Gedanke, der immer schwer zu ertragen war und in der Vergangenheit stets durch Pathos und Patriotismus gerechtfertig wurde.
Dilemma des modernen Krieges
Wenn diese Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen, bleibt nur noch die Verschleierung. Kann ein demokratischer Staat Zustimmung dafür erwarten, dass er seine Bürger für geopolitische Gewinne und Ressourcen in den Krieg schickt? Lässt sich die Entmenschlichung im Namen des Humanismus rechtfertigen?
Ein unauflösbares Dilemma liegt dem modernen Krieg zugrunde. Und so lange wir nicht versuchen, auf diese Frage Antworten zu geben, gilt die Reporterweisheit: "Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit."
Vergessene brutale Geschichten
Wikileaks entreißt die schmutzige Wahrheit des Krieges dem bewussten Vergessen. Ich sage Vergessen, denn man kann nur vergessen, was man bereits weiß. Wir wissen natürlich alle, was Krieg bedeutet, aber wir wollen es nicht wahrnehmen, wenn wir die täglichen Agentur-Meldungen über zivile Opfer der Nato-Truppen und Selbstmordanschläge auf Moscheen oder ISAF-Konvois lesen. Auf jeden Fall nicht die dahinter liegenden Geschichten.
Und diese erzählt nun Wikileaks. Dabei ist es nicht so, dass diese Geschichten noch nie erzählt wurden. Wer sich in den vergangenen Jahren mit Afghanistan beschäftigt hat, wird sie gelesen haben.
Die Geschichte von der Hochzeitsfeier in Nangarhar, die bombardiert wird und eine ganze Familie auslöscht, die Geschichte von dem Soldaten, der in Urusgan ein Bein verliert, schwer traumatisiert nach Hause zurückkehrt und bis heute auf Anerkennung wartet.
Die Geschichte von der Frauenbeauftragten in Kandahar, die vor ihrer Haustür niedergeschossen wird, die Geschichte des Gouverneurs von Ghazni, den einen Bombe zerreißt als er in einer Moschee für einen Verstorbenen betet und die Geschichte des Taxifahrers, der an einer Straßensperre in Kabul festgenommen, ins Militärgefängnis von Bagram gesteckt wird und erst Jahre später unschuldig aber von der Folter zerbrochen entlassen wird.
Daten ohne Sichtbarkeit
Diese Liste bekannter Geschichten ließe sich endlos fortsetzen. Und worin unterscheiden sich diese bekannten Geschichten von denen in den Tagebüchern? Ist es nicht vielmehr die schiere Menge, die sie so unerträglich macht? Erinnern sie nicht an Schützengräben und Bombennächte und "Agent orange"? Kurz: alle Schrecken des Krieges im kollektiven Unbewussten?
"Die einzige neue Tatsache ist die Bestätigung von Gerüchten, wonach die Taliban hitzeempfindliche Raketen tatsächlich besitzen und auch gegen Nato-Flugzeuge eingesetzt haben", schreibt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig vom "Afghan Analysts Network" über die Wikileaks-Dokumente. Wahrscheinlich. Aber das sind Einzelheiten, aus denen Kriegshistoriker irgendwann einmal eine konsistente Geschichte machen werden.
Bis dahin "ertrinken wir in Daten ohne Sichtbarkeit" wie ein Leser des britischen "Guardian", dem die 92.000 Dokumente zeitgleich mit der "New York Times" und dem "Spiegel" zugespielt wurden, richtig bemerkt.
Kaum neue Fakten
Vieles, was die genannten Medien über die Tagebücher schreiben, ist redundant, alt oder banal. So etwa meint der "Spiegel", die Datensammlung zeige, dass "der Krieg im Norden des Landes, da wo die deutschen Truppen stationiert sind, immer bedrohlicher wird".
Der Satz ist entlarvend, denn "bedrohlich" ist eine rein subjektive Vokabel. Tatsächlich kann man aber auch in jedem Pressearchiv nachlesen, dass die Aktivität von Aufständischen im Norden in diesem Zeitraum begann anzusteigen.
Weiter heißt es, dass "erst Ende 2005, Anfang 2006 (...) sich der Widerstand gegen die internationale Truppenpräsenz formierte". Jeder, der diese Zeit in Afghanistan verbracht hat oder den Verlauf des Krieges seit 2001 als Journalist beobachtet hat, weiß das und hat es auch geschrieben.
Ebenso wenig überrascht der Aufschrei, der durch Pakistan ging, nachdem die Dokumente einmal mehr "enthüllen", dass der pakistanische Geheimdienst ISI mit der Führung der Taliban (der so genannten Quetta-Shura) zusammen arbeitet und dass pensionierte Offiziere des Dienstes mit dem Haqqani-Netzwerk in Verbindung stehen, das Kontakte zur Terrororganisation al-Kaida pflegt.
Dies gehört zu den Tatsachen, die in diesem Land jeder kennt aber nicht ausspricht, weil sie zur nationalen Verteidigungsstrategie gehören. Wie der Journalist Khaled Ahmed kürzlich in der "Friday Times" schrieb: "Jeder in Pakistan weiß, dass für die USA die Geschehnisse in Afghanistan ein Krieg gegen den Terrorismus sind, während sie für Pakistan ein Krieg gegen Indien sind".
Neu-Definition von "Kriegsverbrechen"
Was also bleibt von den Tagebüchern? Genau werden wir das erst in der historischen Rückschau wissen. Auf jeden Fall aber scheinen sie – vermutlich am Ende einer langen Kette von früheren Berichten über den Krieg in Afghanistan – unsere Wahrnehmung zu verändern. Und das ist gut so.
So ruft etwa die Politikwissenschaftlerin Charli Carpenter in der "International Herald Tribune" dazu auf, endlich eine neue Definition für das zu finden, was als "Kriegsverbrechen" gilt, weil die bisher Bestehende nicht dazu geeignet ist, die große Zahl von unbeabsichtigten Tötungen von Zivilisten durch Drohen-Angriffe oder "Hausdurchsuchungen" in Afghanistan zu ahnden. Er weist auch zu Recht darauf hin, dass die derzeit heftig kritisierten "gezielten Tötungen" von Feinden gegenüber dem "Einäschern von ganzen Städten" einen Fortschritt darstellen.
Wenn die Veröffentlichung von Wikileaks dazu beiträgt, dass sich moderne Gesellschaften ehrlicher damit auseinander setzen, was es heute bedeutet Krieg zu führen, haben sie viel erreicht.
Britta Petersen
© Qantara.de 2010
Britta Petersen leitet seit dem 1. Juli 2010 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore/Pakistan. Zuvor lebte sie fünf Jahre als Autorin und Weltreporterin in Neu-Delhi/Indien. Als Gründerin der Initiative Freie Presse e.V. (IFP) war sie von 2003 bis 2005 in Kabul tätig. Für ihre Arbeit mit jungen afghanischen Journalisten erhielt sie 2005 den Leipziger "Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien".
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de 2010
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