Ausgeblendete Schattenseiten
Der Film war lange Zeit nur eine Schimäre: Curd Jürgens oder Yul Brynner, Antonio Banderas und Jospeh Fiennes erschienen würdig genug, um jenen Mann darzustellen, der in einer Umfrage des Time Magazine zum "Mann des Jahrhunderts" gewählt wurde.
Der türkische Staat indes hintertrieb häufig Ansinnen, die mythisch verklärte Figur der Anschaulichkeit des populären Mediums Kino auszusetzen. Zülfü Livanelis "Veda" ist in dieser Hinsicht ein Meilenstein, und der in der Türkei verehrte Romancier, Chansonnier und Filmemacher scheint beinahe der richtige Mann dafür zu sein. Um es kurz zu machen: "Veda" ist eine vorhersehbare Enttäuschung – der Historienfilm arbeitet sich durch Kapitel, die jeder türkische ABC-Schütze verinnerlicht hat.
Mit einer Rosskur ins 20. Jahrhundert
Mustafa Kemal, in Saloniki ohne Vater aufgewachsen, ist bereits als Kleiner ein Großer, schon auf der Schule animiert er die Jungs zum Kriegsspiel, und Tanzen kann der junge Kadett wie kein zweiter. Dann blättert sich der Film durch die Biografie: der Einsatz als Offizier im libyschen Bengazi, die Vertreibung von Mutter und Schwester aus Saloniki. Erster Höhepunkt ist der legendäre Sieg von Cannakale/Gallipoli in einer der opferreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs, als Kemal die Briten und ihre Verbündeten von der Durchquerung der Dardanellen und damit vorm Sturm auf das ungeschützte Istanbul abhält. Einige Blätter weiter: 1919, nach Kriegsende bewahrt Kemal die Türkei vor der geographischen Vernichtung, vor der Aufteilung unter den Siegermächten. Den Rückkehrbefehl durch Sultan und Briten missachtend, wird er zum Rebellen, gegen den 1920 das Todesurteil verhängt wird.
Das anatolische Ankara wird sein Widerstandsnest, von wo aus er – durch Besetzung des Telegraphennetzes – auch die entfernten Landesteile kontrolliert. Und noch ein paar Seiten weiter: Nach erfolgreicher Revision des schmachvollen Vertrages von Sèvres beginnt erst die eigentliche Arbeit – die Türkei, den ehemals "kranken Mann am Bosporus" mit einer Rosskur ins 20. Jahrhundert zu katapultieren. In wenigen Jahren peitscht Atatürk sein Reformprogramm durch: Abschaffung des Sultanats, Ausrufung der Republik, Verbot von Kopftuch und Fes, Ersetzung der arabischen Schrift durch latinisierte Buchstaben.
Bei einer landesweiten Registrierung erhält jeder Staatsbürger einen Familiennamen, Mustafa Kemal, krönt sich zwar nicht selbst, verleiht sich aber den sprechenden Nachnamen "Atatürk" – "Vater der Türken". Ein Sperrfeuer von Maßnahmen, die jede für sich eine Erschütterung der osmanischen Identität bedeuten, und bis heute noch nicht verwundene Traumata erzeugten, vorangetrieben durch die Einsicht, dass dieses Land nur überleben kann, wenn es sich am Puls der Zeit hält und am Westen orientiert. Bis heute bedingt das eine Sonderstellung zwischen Europa und der Islamischen Welt.
Kindliche Untersicht
Statt hier nun in die Tiefe der kollektiven Psyche zu steigen, betreibt "Veda" ironiefreie, distanzlose Legendenbildung. Alles verweist platt aufs Exemplarische. Unter den beiden Frauen, die Atatürks Leben prägen, verkörpert Fikriye die rückschrittliche Orientalin, die multilinguale Latife hingegen das Forschrittsmodell der modernen türkischen Frau. Inszenatorisch ist "Veda", dessen Produktionskosten von umgerechnet 3,2 Millionen Euro Livaneli aus der eigenen Tasche bezahlt hat, über dem Durchschnitt des türkischen Popcornkinos gehalten, und mit 1,2 Tonnen Make-up, 150 Echthaar-Perücken und 12.000 Kostümen ein üppiger Historienschinken, der viel zu weit ausholt und nirgendwo hinreicht.
Die Erzählperspektive ist immer identisch mit der Figur, die keine historisch-politische Positionierung oder Kontextualisierung findet. Schon die Rahmenerzählung, in die dieser biographische Bilderbogen als Rückblende eingebettet ist, wird von der Untersicht des Bewunderers bestimmt: Atatürks "Eckermann" ist Salih Bozok, der wackere Freund von Kindesbeinen an, der am Sterbebett des Helden das gemeinsam Erlebte Revue passieren lässt. Auf die Frage, ob er nie eifersüchtig gewesen sei, antwortet er demütig: "Kann man denn eifersüchtig sein auf den Berg Agri, die Wolken, das Mittelmeer?"
Die halbe Wahrheit
Nachdem Atatürk die Türkei umgekrempelt hat, ist fast schon Schluss. Die zänkische Frau macht ihn krank, der Landesvater treibt sich zunehmend in Clubs und Casinos herum und bricht irgendwann zusammen. Dabei mangelt es dem Film am Spannendsten: der Gebrochenheit, die einen historischen Giganten wie Atatürk erst persönlich greifbar macht. Bei Livaneli fehlt nicht nur der exzessive Raki-Konsum, der Mustafa Kemal den Tod eines Alkoholikers bescherte, es fehlt auch Wichtigeres: die ethnische Homogenisierung, die blutige Niederschlagung kurdischer Aufstände, die Beseitigung unliebsamer Weggefährten im letzten Lebensjahrzehnt, die weit reichende Entscheidung, die Einführung des Mehrparteiensystems zu vertagen.
Allerdings werden nicht nur die Schattenseiten ausgeblendet; auch international bedeutsame Verdienste kommen in "Veda" nicht vor: Atatürks Absage an expansionistisches Hegemonialdenken etwa, oder seine frühzeitige und beharrliche Warnung vor Hitler, und die nachhaltige Weigerung auf dessen Bündnis-Avancen einzugehen.
Das Erbe wahren
Solche Facetten fehlen, Atatürks letzte Jahre sind auf Szenen einer Ehekrise zusammengeschnurrt. Nun waren die Probleme eines türkischen Atatürk-Biopics voraussagbar, dennoch stellt sich die Frage, warum jemand wie Livaneli einen Film dreht, der nur scheitern kann. Bei der Deutschlandpremiere während des Nürnberger Filmfestivals nannte der 63-jährige die Arbeit am kemalistischen "Götzen" als Antrieb: "Die Armee hat Atatürk wie eine Maske vor sich her geführt. Für mich jedoch verkörpert er bestimmte Werte – Säkularismus und Frauenrechte."
Auch müsse endlich der Privatmann Atatürk gewürdigt werden: "Dadurch wird er noch größer." Das sind hohe Worte, die sich allerdings kaum in Bildern niederschlagen. Livaneli hätte sich wohl weniger an Stalin-Propagandafilmen orientieren sollen, und mehr an künstlerisch ansprechenden Produktionen wie Richard Attenboroughs "Gandhi", Oliver Stones "JFK" oder Steven Soderberghs "Che", die auf ihre historisch schwergewichtigen Protagonisten ebenso kritische wie wertschätzende Blicke werfen.
"Veda" hingegen wirkt wie ein durchschnittlicher Jesusfilm – mitsamt Aposteln, froher Botschaft und leidenden Madonnen. Zülfü Livaneli, ehemaliger Istanbuler Bürgermeisterkandidat mit politischen Dauerambitionen, sieht es wohl so: in einer Zeit, in der die Türkei zwischen Nationalisten, kurdischen Separatisten und Islamisten auseinander zu brechen droht, ist es an der Zeit, die Gründungsstunde der Nation wieder zu beschwören, das Volk an jene kemalistischen Werte zu erinnern, die es ohnehin nicht vergessen hat, weil sie sie ihm ständig eingebläut werden.
Er selbst sagt: "Es besteht die Gefahr, dass das Erbe zerstört wird, sogar durch das Volk selbst." Die Frage ist, ob solch eine ideologische Rückbesinnung schon die Kur darstellt oder noch das Problem.
Amin Farzanefar
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