Wider den Todeskult
Wie auf der gesamten Welt entstand in den 1960er und 70er Jahren eine starke Jugendbewegung in der Türkei, die sich vornehmlich in sozialistischen und kommunistischen Gruppen organisierte. Diese revolutionären Bewegungen prägten die Türkei und die Politik der 1970er und 80er Jahre.
Millionen gingen unter roten Flaggen mit unterschiedlichen Schriftzügen auf die Straßen um die Erlösung der Menschheit vom Kapitalismus einzufordern. Revolution, hier und jetzt - und wenn es das Leben kostet, so das Credo.
Die 1985 in der Wut über die Gewalt und Ungerechtigkeit des Putschregimes gegründete Musikgruppe Grup Yorum lieferte den Soundtrack zu diesem Lebensgefühl. Simple, prägnante Melodien, meist angelehnt an Anatolische Volksmusik, doch europäisiert in Instrumentierung und Ästhetik, dienten ebenso prägnanten Botschaften als Träger in Ohr und Herz der Menschen. Durchhalteparolen, Anklagen gegen die allgegenwärtige Ungerechtigkeit, romantische Widerstandshymnen und Aufforderungen zum Kampf waren die zentralen Inhalte.
Der türkische Staat hatte für die revolutionäre Bewegung insgesamt und auch für die Band Grup Yorum wenig Verständnis übrig. Nicht nur, aber vor allem unter den Putschregimen wurden unzählige Menschen verhaftet, gefoltert oder verschwanden spurlos. Darunter auch Mitglieder von Grup Yorum.
Soundtrack der Hoffnung
Eine ebenso große Anzahl von Revolutionären, sowohl türkischer und kurdischer Herkunft, als auch sunnitischer und alevitischer Glaubensausrichtung, ging ins Exil, meist nach Europa. Auch hier blieben die Lieder von Grup Yorum unangefochten der Soundtrack der Hoffnung, Ausdruck der Sehnsucht nach Heimat und der besseren Welt von Übermorgen zugleich, sowie Trinklied bei der Zusammenkunft in verrauchten Vereinsräumen. Zahlreiche Amateure gaben die Lieder von Grup Yorum auf Solidaritätskonzerten und Mahnwachen auf spärlich eingerichteten Bühnen wieder, das Publikum stets dankbar mitsingend und jubelnd.
Eine Zeitlang konnte man in der Türkei verhaftet werden, wenn man Lieder von Grup Yorum hörte, in denen etwa zum Leben im kämpferischen Untergrund aufgerufen wurde. Nicht wenige Schüler und Studenten wurden belangt, weil wissbegierige Lehrer bei ihnen die gemeingefährlichen Kassetten gefunden hatten. Eltern waren besorgt, wenn sie die verbotenen Klänge aus den Zimmern ihrer bis dato unschuldigen Kinder hörten. Besonders umstritten waren Lobgesänge auf Mitglieder der bis heute verbotenen DHKP-C, die regelmäßig Anschläge auf Militär und Polizei verübt.
Zwischen Utopie und Populismus
Während sich auch türkische Nationalisten im propagierten Kampf des Volkes gegen den Imperialismus wiederfinden konnten, brachte das Singen in Sprachen der zahlreichen Minderheiten (allen voran Kurdisch, Zazaki und Lasisch) Grup Yorum wiederum die Feindschaft der nationalistischen Linken ein.
Die ideologische Breite der von Grup Yorum erreichten Menschen ist in jedem Falle erstaunlich. Hierzu trugen sowohl die schnelle Reaktion der Gruppe bei, die stets das aktuelle Geschehen (wie etwa den Brandanschlag in Sivas 1993) mit neuen Liedern aufgriff, als auch das einfache und romantische Bild, das die Texte zeichneten. Der gemeinsame Kampf der unterdrückten Völker gegen Kapitalismus und Imperialismus ist ein Motiv, das Menschen verschiedenster politischer Überzeugungen in der Türkei eint.
Wie groß die Hörerschaft von Grup Yorum ist, konnte man 2010 beobachten. Es waren die liberalsten Jahre der Republik, die noch relativ junge AKP ermöglichte in ihrem Kampf gegen das alte Establishment ungeahnte Freiheiten. Das Konzert von Grup Yorum mit zahlreichen prominenten Gastmusikern fand im Stadion von Beşiktaş an einem der zentralsten Orte Istanbuls statt und ging als das Konzert in die türkische Geschichte ein, bei dem am meisten Tickets verkauft wurden. Nur kostenlose Konzerte durften sich über höhere Besucherzahlen freuen. Zu den kostenlosen Konzerten der Gruppe kommen hunderttausende, in Izmir waren es 2015 sogar über eine Million Besucher.
Das Motto des Konzerts in Izmir verrät auch einiges über den Hang der Gruppe zu einem Populismus, der nahtlos in verklärenden Nationalismus übergehen kann. Für eine "unabhängige Türkei" sollte das Konzert stattfinden - normalerweise eine Forderung der Nationalisten, die meinen, die Türkei werde von Washington oder der Wall Street kontrolliert, und in einer "wahrhaften Herrschaft des Volkes" eine Aufhebung aller gesellschaftlichen Widersprüche und Probleme sehen. Auch der "Befreiungskrieg" unter Kemal Atatürk 1919-23 sollte eine unabhängige Türkei erschaffen, war jedoch vor allem ein Projekt der Türkisierung Anatoliens.
Dieser Populismus ist nicht das einzig problematische an den ideologischen Grundfesten der Gruppe. Gemeinsam mit vielen weiteren extrem ideologisierten Strömungen im Nahen Osten frönt sie einem Märtyrerkult, der regelmäßig tragische Opfer fordert und auch weiterhin fordern wird, wenn diese Ideale auch künftig für eine Jugend gepredigt werden, die nach Auswegen aus realer oder gefühlter Ohnmacht und klaren Antworten für ihre verständliche Wut auf die miserablen Verhältnisse dieser Welt sucht.
Stoppt die Verehrung des Todes!
Dieser Märtyrerkult eint - bei allen sonstigen und oft entscheidenden Unterschieden - Islamisten und die PKK, türkische Nationalisten und revolutionäre Sozialisten. Der Tod wird nicht als möglichst vermeidbares Übel gesehen, sondern als höchste Stufe im ehrenvollen Kampf stilisiert.
Von Dschihadisten, die sich direkt ins Paradies sprengen wollen, über die "Şehîd Namırın"-Rufe (auf Deutsch: Die Märtyrer sind unsterblich), die auf kurdischen Demonstrationen zu hören sind, hin zu den türkischen Nationalisten, die wild fahnenschwingend rufen, die Märtyrer seien unsterblich und das Vaterland unteilbar (ein Slogan, der generell nach dem Tod von Soldaten skandiert wird, die im Kampf gegen die PKK gefallen sind: "Şehitler Ölmez, Vatan Bölünmez") ist der Weg um einiges kürzer, als es den Beteiligten bewusst und lieb ist.
Und ebenso wie die den gefallenen Soldaten Hinterhertrauernden sich fragen müssen, ob der von ihnen mitgetragene türkische Nationalismus und Militarismus nicht ebenso schuld am Tod der blutjungen Burschen ist, die in den Bergen Südostanatoliens fallen, muss die türkische und kurdische Linke ihren Märtyrerkult hinterfragen.
Die in jüngster Zeit zu tragischem Ruhm gekommene Helin Bölek, Aktivistin und Band-Mitglied von Grup Yorum, wird in diesen Kreisen als Heldin glorifiziert: als Inbegriff der Standhaftigkeit gegen das Unrecht. Schuld sei der türkische Faschismus.
Es stimmt: Bölek hat großes Unrecht erleiden müssen. 2016 wurde die kurdischstämmige Sängerin gemeinsam mit weiteren Musikern unter dem Vorwurf der "Terrorismuspropaganda" festgenommen und war seitdem inhaftiert. Das Kulturzentrum, in dem sie aktiv waren, wurde geschlossen. Zudem wurde ein Aufführungsverbot verhängt.
Vom Hungerstreik bis in den Tod
Um gegen die Anklage, die Bedingungen der Haft, die allgemeine Repression sowie das Aufführungsverbot zu protestieren, hatten Bölek und ihre Kollegen am 17. Mai 2019 einen Hungerstreik begonnen. Diese unsägliche Form des Protests hat zwar, ebenso wie Selbstverbrennungen, eine Tradition von Teilen der türkischen und kurdischen Linken, bisher fast nie zu einem nennenswerten Erfolg geführt. Und selbst wenn sie es hätten, wären diese lebensfeindliche Form der Selbstaufgabe - ob für eine höhere Sache, für das Vaterland oder für einen "Führer" - dennoch verabscheuungswürdig.
Helin Bölek und ihre Kollegen wurden wenige Wochen vor ihrem Tod von den staatlichen Kräften ins Krankenhaus gebracht, sie verweigerten jedoch jede Art der Hilfe. Für diesen grausamen Selbstmord wird Helin Bölek von vielen verehrt - in der Türkei, im Nordirak, im Iran, aber auch in Deutschland. Nur vereinzelt wurde Kritik an Todeskult und starrer Ideologie laut, die durch die zahlreichen und jeden Mitleids entbehrenden Verlautbarungen sprach.
Jeder Tote ist einer zuviel. Die türkische und kurdische Linke muss daher aufhören, ihre Mitglieder zu verheizen wie das Militär seine Soldaten. Es ist an der Zeit, sich im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit auf das zu besinnen, was das wertvollste ist: das Leben.
Tayfun Guttstadt
© Qantara.de 2020