Texte wie ein Befreiungsschlag
Im deutschen Wahlkampf wird, wieder einmal, viel über Geflüchtete und über Migration geredet. Wohlgemerkt: Über, nicht mit. In einer Zeit, in der faktisch völlig unstrittig ist, dass Deutschland in absehbarer Zukunft nicht weniger, sondern deutlich mehr Einwanderung benötigt, um wirtschaftlich stabil bleiben zu können, werden Zugewanderte von mehreren Parteien vor allem als Kostenfaktor thematisiert – als wäre die Zuwanderung unterm Strich für Deutschland nicht immer schon ein gewaltiges Plusgeschäft gewesen.
So werden Realitäten ausgeblendet in der Hoffnung, mit Populismus, Ressentiments und Rassismus punkten zu können. In einer Zeit, in der ein knappes Fünftel der Bundesbürger:innen wieder rechtsextrem wählt, kommt es anderen Parteien weniger in den Sinn, dem entschieden entgegenzutreten.
Stattdessen fährt man eine Abschottungspolitik, die Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen einerseits ist, und die andererseits demonstriert, wie wenig sie sich um eine konstruktive Gestaltung der Zukunft des Landes scheren. Von den viel beschworenen „westlichen Werten“ gar nicht erst zu sprechen.
Die oft völlig hohle Phrase der „Integration“ wird von weiten Teilen der hiesigen Gesellschaft als Einbahnstraße verstanden, in dem Sinne, dass man von Menschen aus anderen Ländern permanente Anpassungsleistung erwartet, selbst aber meist gar nicht auf die Idee kommt, zu diesem Prozess selbst auch etwas beizusteuern.
Mohammad Zahra, geboren 1988 in Syrien, fasst das so zusammen: Berlin „verwandelte mein Unbehagen, hier fremd zu sein, in das Bedürfnis danach, anders zu sein, in einer Art von Widerstand und einem Teil meiner Identität. Sie (Berlin, d. Red.) hat bewirkt, dass der Begriff Integration nun ein Nachgeben bedeutet, das mir zuwider ist. Wie könnte es auch anders sein, da die Parteien Integration als Dressur von Barbaren begreifen? Daher wurde mein Anderssein zu einer Art Revolte.“
Zahra ist eine der 29 arabischen, persischen, kurdischen und ukrainischen Stimmen, die das Berliner Poetry Projekt in Kooperation mit dem PEN Berlin für die mehrsprachige Anthologie „Sei neben mir und sieh, was mir geschehen ist“ gesammelt hat. Die formal vielfältigen Gedichte nebst einer Handvoll Prosatexte sind das Ergebnis von Workshops, die die Organisator:innen zusammen mit Schriftsteller:innen, Vermittler:innen und Übersetzer:innen durchgeführt haben.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammen aus Syrien, dem Irak, der Türkei, Afghanistan und der Ukraine. Die meisten sind jung, in ihren Zwanzigern. Einige haben bereits literarisch publiziert, viele hingegen haben hier zum ersten Mal ihre Erlebnisse, Eindrücke, Erfahrungen in literarischer Form verarbeitet. Die meisten sind zwischen 2015 und 2022 als Geflüchtete nach Deutschland gekommen.
Das Buch teilt sich in vier Abschnitte, sortiert nach den vier Ausgangssprachen. Die Abschnitte werden jeweils von einem kurzen Essay sowie einem Interview mit der Workshopleitung begleitet. Der Großteil der Texte ist sowohl im Original aus auch in deutscher Übersetzung enthalten.
Schnell wird klar, dass es vor allem denjenigen, die zuvor keine Schreiberfahrung hatten, erstmal schwer fiel, das, was in ihnen vorgeht, in Worte zu fassen und zu Papier zu bringen. Und das keineswegs, weil ihnen das Talent dazu fehlen würde, sondern weil ihre Lebenssituation oft höchst schwierig und die Auseinandersetzung mit teils traumatischen Erinnerungen, angefangen bei der völligen Entwurzelung in sehr jungen Jahren, Wunden aufreißt.
„Auch ohne Pass ist man ein Mensch“
Am Ende stehen Texte, die wie ein Befreiungsschlag bei den einen wirken, bei anderen wie eine Anklage, bei wieder anderen wie der unbedingte Wille, sich mitzuteilen und die eingangs erwähnten Ressentiments aufzubrechen.
„Deutschland, du bist nicht, was du vorgibst zu sein, / Wenn die Vielfalt und Toleranz, die du beschwörst, / Von Hass und Intoleranz erstickt werden“, heißt es in einem Gedicht von Rojin Namer, 2002 in Damaskus geboren, 2015 zusammen mit ihrem Bruder nach Berlin gekommen. Inzwischen hat sie mehrere deutsche Literaturpreise gewonnen.
Es gibt aber auch Stimmen, die auf Anklagen verzichten und stattdessen den beschwerlichen Fluchtweg über das Mittelmeer in überfüllten Kähnen mit zu wenig Essen und Wasser beschreiben, oder über die Balkanroute, ständig der Willkür der Grenzer:innen ausgesetzt, bis zur Ankunft in der deutschen Hauptstadt, die zwar auch von Unsicherheit und Willkür geprägt ist, die aber zugleich trotz aller Widrigkeiten die Erleichterung mit sich bringt, erstmal in Sicherheit zu sein und einen Platz zum Schlafen zu haben.
Andere wiederum richten den Blick in die Vergangenheit, oft in die eigene Kindheit. Es klingt Sehnsucht an nach der Familie oder nach Angehörigen und Freund:innen, die die Kriege in den Heimatländern nicht überlebt haben. Sehnsucht nach den Gassen, in denen die Autor:innen als Kind gespielt haben oder nach dem hastig verlassenen Stadtviertel und der Frage, ob es heute überhaupt noch existiert, wo doch in Syrien und Teilen des Irak vieles zerbombt ist und Russland in den besetzten Gebieten mit der Dampfwalze alles Ukrainische auslöscht, ohne Rücksicht auf Geschichte und gewachsene Strukturen: Eine permanente Demütigung aus der Ferne, und genau darum geht es den Kriegstreibern ja.
„Schließe ich die Augen, versinke ich in den Erinnerungen meiner Kindheit. / Wenn ich den Kopf wende, sehe ich die blutüberströmte Puppe meiner Nachbarin“, schreibt Jamal Abasi, geboren 2001 in Herat, mit zwölf Jahren nach Deutschland gekommen.
Und Yasser Niksada schreibt: „Auch ohne Pass ist man ein Mensch.“ Und vielleicht ist es eines der größten Probleme unserer Zeit, dass es Menschen gibt, denen man derartige Selbstverständlichkeiten überhaupt noch erklären muss.
Der vorliegende Band ist so wichtig, weil er eben nicht über, sondern mit den Geflüchteten spricht, sie selbst sprechen lässt, ihnen eine Stimme gibt, die so viel vielschichtiger, komplexer und faktenbasierter ist als all das platte populistische Getrommel von Teilen der deutschen Zivilgesellschaft und großen Teilen einer Parteienlandschaft, die sich mit ihrer ständigen Abwertung von Menschen selbst unmöglich macht – und leider trotzdem gewählt wird.
Der vorliegende Band ist ein Gegenmodell dazu: Eine Einladung zu einem Dialog über Grenzen hinweg.
„Sei neben mir und sieh, was mir geschehen ist“
PEN Berlin, The Poetry Project
240 Seiten, 20 Euro
Deutsch und teilweise Arabisch, Kurdisch / Kurmandschi, Persisch, Ukrainisch
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