Wo bleiben die arabischen Ikonen?
Bislang zeichnen sich keine Sterne am Himmel der arabischen Musik und Literatur ab, die den Kultgrößen Fairuz, Taha Hussein, Umm Kulthum und Mohammed Abdel Wahab künftig den Rang ablaufen könnten. Aber warum ist das so?
Wer kann heute erzählen wie Yusuf Idris, der Meister der Kurzgeschichte? Wer schreibt Romane, so bedeutsam wie die Werke von Nagib Mahfuz?
Wer folgt den wegweisenden Neuerungen Taufiq al-Hakims beim Theater und wer tritt die Nachfolge Mohammed Hassanein Heikals im Journalismus an?
Wer ist im Kino so groß, wie es Salah Abu Seif einst war? Wer wird das Erbe Mahmoud Mokhtars in der Bildhauerei antreten? Und wer die Lücke füllen, die Abdel Hadi al-Gazzar in der bildenden Kunst hinterlassen hat?
Wer tritt in die Fußstapfen des Intellektuellen Louis Awad? Wo sind Lyriker wie Amal Donqol? Wer setzt Maßstäbe in der Wissenschaft wie Ali Moustafa Mosharafa und bringt neue Ideen wie Talaat Harb in der Wirtschaft?
Die ernüchternde Antwort lautet: Es gibt sie nicht, die Nachfolger dieser Kulturgrößen.
Geißeln wir uns mit diesen Fragen lediglich selbst, gehen wir zu hart mit unserer Kulturszene ins Gericht? Oder liegt diesen Fragen vielmehr eine Haltung der Verweigerung zugrunde, die ihre Augen vor neuen Potenzialen verschließt?
Wohl kaum. Kein Werk aus den letzten 50 Jahren hat in der arabischen Welt einen solchen Nachhall erfahren wie das 1927 erschienene Buch „Über die vorislamische Dichtung“ von Taha Hussein.
Doch warum? Dies lässt sich nicht eindeutig beantworten. Selbstverständlich gibt es junge Nachwuchstalente, deren Stimmen denen von Fairuz, Umm Kulthum, Leila Murad und Asmahan ähneln. Aber warum kommen uns diese Stimmen nicht zu Gehör? Wo sind die großen Komponistinnen und Komponisten, wie sie al-Sunbati, Baligh, al-Mougy und al-Qasabgi einst waren?
Zweifelsohne gibt es dafür zahlreiche Gründe. Einige davon sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
Der Raum der Stadt
Erstens sind Städte seit jeher Quelle und Triebkraft für Kreativität und Innovation. Die urbane Umgebung und das Beziehungsnetz, das innerhalb dieses Raumes entstehen kann, geben Impulse für neue Ideen und künstlerisches Schaffen. Genauso können Städte einen gegenteiligen Effekt haben und als Katalysatoren für Innovationsfeindlichkeit und die Unterdrückung neuer Ideen wirken. Dies hängt nicht zwangsläufig mit dem dahinterliegenden politischen System und seiner Einstellung zu Innovation zusammen.
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf Budapest im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Die lebendige Atmosphäre in der Stadt bot vielen klugen Köpfen Raum zur Entfaltung ihrer Ideen. Mit ihren Innovationen nahmen große Visionäre Einfluss auf den Verlauf des weiteren Jahrhunderts, beispielsweise Leó Szilárd, Physiker und Pionier seines Fachs, der seit 1933 maßgeblich an der Entwicklung und Anwendung der Kernenergie beteiligt war. Oder John von Neumann, Mathematiker und Physiker, bekannt für seine bahnbrechenden Entdeckungen im Bereich der Quantenmechanik.
Ebenso wie Budapest war auch Alexandria zur selben Zeit ein Hafen für Intellektuelle und Künstler. Die Mittelmeerstadt war damals ein Ort der Schaffenskraft und Kreativität, der in der Zeit seiner Blüte brillante Persönlichkeiten wie den Sänger Sayed Darwish, den Lyriker Bayram al-Tunisi, den Schriftsteller Taufiq al-Hakim oder den Schauspieler Mahmoud Said hervorbrachte.
Alexandria entwickelte sich in dieser Zeit zu einem florierenden internationalen Schmelztiegel, dessen kulturelle und infrastrukturelle Attraktivität die Avantgarde aus verschiedensten Disziplinen anzog. Doch Kreativität fällt nicht einfach so vom Himmel: Die Stadt und ihr Netz aus Beziehungen boten dem regen kreativen Treiben einen fruchtbaren Boden, auf dem die Ideen ihrer Bewohner wachsen und gedeihen konnten. So brauchte der Sänger Sayed Darwish den Lyriker und Liedtexter Badi′ Khayri, und diese beiden wiederum brauchten den Schauspieler Naguib al-Rihani. Alle Drei brauchten dutzende Andere, um ihre Projekte zu realisieren und ihrer Kreativität Ausdruck zu verleihen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zog es Armenier, Levantiner, Italiener, Griechen und andere nach Ägypten. Ob im Kino, in der Musik, im Theater oder in akademischen Kreisen – durch die Beiträge von Menschen unterschiedlichster Herkunft sorgten die verschiedenen kulturellen Einflüsse für eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung.
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Städten wie Paris oder New York, die ebenfalls unzählige Künstlerinnen und Künstler anlockten. Im ägyptischen und arabischen Raum bot keine andere Stadt ein mit Alexandria vergleichbares Milieu, keine andere Stadt hat so viel Raum für Ideen, Dialog und kulturellen Austausch geboten.
Heute sind Kultureinrichtungen und Bildungsinstitutionen in einem jämmerlichen Zustand, verfallen und verlebt. Es fehlt ihnen an finanziellen Mitteln. Künstlerische Aktivität und Bildung brauchen Ressourcen, aber auch ein innovationsfreundliches Klima, woran es uns eklatant mangelt. Unsere Schulbildung basiert - wir wissen es alle - auf Indoktrination. Wir verfügen nicht über Räume, in denen sich Kreativität entfalten kann, neue Ideen werden im Keim erstickt.Öffnung für die großen Fragen
Zweitens, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ägypten zeichnete sich durch eine starke kulturelle Dynamik und enorme Dichte an künstlerischer und intellektueller Produktion aus.
Die Diskurse drehten sich um Fragen der Identität, begleitet vom Bestreben, der ägyptischen Zivilisation auf den Grund zu gehen. Fragen nach Zugehörigkeit - zur Kultur des Mittelmeerraums, zur islamischen Gemeinschaft, zum arabischen Sprachraum beschäftigten die Intellektuellen. Wie junge Triebe schossen zuvor nie gestellte Fragen sowie marxistische, islamische, faschistische und andere neue geistige Strömungen aus dem Boden. Die Frauenbewegung und die Arbeiterbewegung gingen ebenfalls aus dieser Epoche hervor. Es herrschte ein Klima der Offenheit gegenüber den Versuchen, neue Erkenntnisse aus der eigenen Geschichte und den eigenen Denktradition herauszuschälen.
In diesem Raum, in dem die bürgerlichen Rechte weitgehend anerkannt wurden, war ein gesellschaftlicher Dialog möglich, der die Grundlage für eine Entfaltung von Kreativität darstellt. Selbstverständlich war auch dieser Diskurs nicht vor Ausgrenzung und Einschüchterung Einzelner gefeit. So widerfuhr es beispielsweise Ali Abdel Raziq nach der Veröffentlichung seines Buches „Der Islam und die Grundlagen des Regierens“. Trotz aller Kontroverse über sein Buch erfüllte sich jedoch letzten Endes Abdel Raziq’s Absicht, denn sein Werk bereicherte und befeuerte die gesellschaftliche Debatte darüber, ob eine islamische Staatsführung in Form des Kalifats notwendig ist oder eben doch nicht, wie Abdel Raziq schrieb.
Im weiteren Verlauf des letzten Jahrhunderts führte der allgemeine politische Trend zu einer Verengung des Diskurses und trug eine allzu kurze Epoche zu Grabe, deren Protagonistinnen und Protagonisten sich der Suche nach Antworten auf die großen Fragen verschrieben hatten. Die Entscheidungsträger und politisch Mächtigen bestimmten fortan, welche Fragen gestellt werden durften und hielten auch die Schlüssel zu den Antworten fest in ihrer Hand. Wer es dennoch wagte, unangenehme Fragen zu stellen und damit ihr Unbehagen zu wecken, dem drohte ein düsteres Schicksal.
Offenheit und Toleranz statt Abschottung und Radikalität
Drittens, vor einigen Tagen erschien eine Nachricht über die Entscheidung des neuen algerischen Präsidenten, Pierre Audin die algerische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Pierre Audin ist Sohn des französischen Mathematikers Maurice Audin, der seinerzeit als Mitglied der Algerischen Kommunistischen Partei (PCA) für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte, bis er im Alter von 25 Jahren von den französischen Besatzungsmächten ermordet wurde.
Viele Algerierinnen und Algerier protestierten gegen die Entscheidung, einem Franzosen und Nicht-Muslim die algerische Staatsbürgerschaft zu verleihen. In dieser Auffassung entlarvt sich eine Grundhaltung der Abschottung und Radikalität, die große Teile der arabischen Bevölkerungen an den Tag legen.
Es ist derselbe bornierte Geist, aus dem sich der bedauerliche Verlauf der folgenden Begebenheit speist: Eine ägyptische Journalistin unterhielt sich mit dem französischen Journalisten Alain Gresh in einem traditionellen Café in der Kairoer Innenstadt. Was darauf geschah war äußert bizarr und letztlich tragisch.
Eine Frau, die dem Gespräch der beiden gelauscht hatte, rief die Polizei, um vor einem potenziellen Spitzel in den eigenen Reihen zu warnen, der ägyptische Staatsgeheimnisse an verschlagene Hintermänner aus dem Ausland weitergibt. Das letztlich Fatale an der Situation war, dass daraufhin tatsächlich ein Polizist auf Alain Gresh und die ägyptische Journalistin zukam und Letztere dazu aufforderte, mit auf die Polizeiwache zu kommen.
Wo soll dieser makabre Zustand des grundlegenden gegenseitigen Misstrauens hinführen? Wie sollen Ideen in einem solch erdrückenden Klima der Angst gedeihen? Selbst die Aufrechtesten unter uns werden irgendwann unter dieser Last zerbrechen und demoralisiert zurückbleiben.
Aber es geht auch anders: Einen Ausdruck von Verbundenheit finden wir in dem Lied „Bukhmar Khanfchar“, getextet von Badi' Khayri und vertont von Sayed Darwish. Hier sprechen abwechselnd die Stimmen eines Levantiners, eines Türken, eines Ägypters und eines Griechen. Sie stehen unbehelligt neben- und beieinander, alle finden ihren Platz in diesen Zeilen.Förderung junger Potenziale
Viertens, das damalige ägyptische Ministerium für öffentliche Bildung entsandte Ali Moustafa Mosharafa auf Staatskosten zu Forschungszwecken nach Großbritannien, nachdem er seine Lehrerausbildung abgeschlossen hatte. Als 1919 die Revolution in Ägypten ausbrach, hatte er gerade sein Diplom in Mathematik erhalten. Auf seinen Wunsch hin, nach Ägypten zurückzukehren, erwiderte ihm einer der Revolutionäre: „Wir brauchen dich dringender an der Front der Wissenschaft als an der Front der Revolution“.
Mosharafa kehrte nach seiner Promotion im Jahr 1924 nach Ägypten zurück, um als außerordentlicher Professor für angewandte Mathematik an der Fakultät für Naturwissenschaften der Cairo University zu arbeiten. Im Jahr 1926 wurde ihm, entgegen der damaligen Regelungen der Hochschule, noch vor seinem 30. Lebensjahr der Professorentitel verliehen. Die Vita von Mosharafa lässt sich durchaus als Erfolgsgeschichte beschreiben. Aufgrund exzellenter Leistungen erfuhr dieser seit seiner Schulzeit umfangreiche Unterstützung und Förderung, um schließlich der erste ägyptische Dekan der Fakultät für Naturwissenschaften zu werden.
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Auch heute schicken wir unsere Doktorandinnen und Doktoranden für ihren Abschluss ins Ausland. Dies ist jedoch nicht die einzige Art der Unterstützung, die eine wissenschaftliche und intellektuelle Avantgarde bei der Entfaltung ihrer Gedanken und Potenziale braucht. Der Weg des Fortschritts bedarf eines starken, stützenden Fundaments, damit diejenigen ihn beschreiten können, die die Fähigkeit haben, etwaige Hindernisse zu überwinden und die Gipfel der Gelehrsamkeit zu erklimmen. Seit ich denken kann, fehlt es uns an diesem Fundament. Es sind die Kinder unserer Machthaber, die vorangebracht werden, und die Diener der Mächtigen, Unmündige, die ohne Rückgrat vor ihren Führern im Staub kriechen.
Stellen Sie sich einen begnadeten Zither-Spieler vor, der virtuos seine Meisterwerke vorträgt und dann plötzlich von den mittelmäßigen Klängen einer scheppernden Blaskapelle übertönt wird, die jegliche Klangnuance mit ihrem durchdringenden, nervtötenden Tröten erstickt. Oder eine Chemikerin, die an einer neuen, vielversprechenden Formel arbeitet, über deren filigrane Arbeit jemand unverhofft und ohne Vorwarnung einen Liter Wasser auskippt. Oder einen Dichter, über dessen Text man während des Schreibens eine Tonne voll sinnentleerter Buchstaben und profaner Banalitäten schüttet.
All dies erfahren wir täglich am eigenen Leib. Wie in Gottes Namen soll in dieser feindlichen Atmosphäre, die jegliche Kreativität und Reflexion im Keim erstickt, ein kluger Gedanke entstehen?
© Qantara.de 2021
Aus dem Arabischen von Rowena Richter