"Palästina-Flüchtlinge haben ein Recht auf Wahrheit“
Frau Klaus, Sie wollen ein Online-Archiv aufbauen mit historischen Dokumenten aus den Jahren nach der israelischen Staatsgründung beziehungsweise der "Nakba“, wie Palästinenser sagen. Was genau haben Sie vor?
Dorothee Klaus: Wir sind der festen Überzeugung, dass Flüchtlinge ein Recht auf Wahrheit und Information haben. Alle Flüchtlinge sollten die Möglichkeit haben, ihre historischen Familienakten einzusehen. Das Online-Archiv wird einen direkten Zugang zu den historischen Flüchtlingsdateien ermöglichen und zu allen persönlichen Unterlagen, die das UNRWA über die registrierten Bevölkerungsgruppen gespeichert hat. Es soll auch ein Public Interface enthalten, das einen Überblick über die Herkunft der 1948 in Palästina Vertriebenen, ihre Zahl und ihre Migrationswege bietet.
Um was für Dokumente geht es?
Klaus: Es handelt sich um Dokumente, die 1950 bis 1951 in einem Zensus erstellt wurden, direkt nachdem UNRWA die Arbeit aufnahm. Darunter sind Familienakten mit handschriftlichen Beurteilungen der jeweiligen Situation und Informationen über Familienzusammensetzung und sozialen und wirtschaftlichen Status in Palästina vor 1948. Die Aufgabe von UNRWA war damals vor allem die Versorgung der vertriebenen Bevölkerung. Es ging um die Frage, wer Anspruch hat auf Nahrungsmittelrationen, Unterkunft und so weiter.
UNRWA hatte Listen geerbt von Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz oder den Quakers (AFSC). In dem Zensus von 1950/51 ging es darum zu verifizieren, wer wirklich eine vertriebene Person war. UNRWA-Mitarbeiter haben damals jede Familie besucht, Namen und Verwandtschaftsverhältnisse neu registriert und auch Informationen zur sozialen und wirtschaftlichen Situation vor der Vertreibung aufgenommen.
Wo liegen all diese Informationen heute?
Klaus: Die UNRWA-Dokumente aus dem Zensus liegen in unseren Büros in Damaskus, Amman, Gaza-Stadt, Beirut und Jerusalem. Es hat bereits Bemühungen gegeben, alle Flüchtlingsakten zu digitalisieren. 30 Millionen Dokumente wurden bereits digitalisiert, aber etwa 10 Millionen wurden übersehen. Sie müssen noch gescannt und in unsere Datenbank eingefügt werden. Auch hat eine Indexierung und Klassifizierung der historischen Akten nie stattgefunden.
"Alle Zahlen werden auf historischen Dokumenten beruhen"
Warum braucht es ein Online-Archiv, abgesehen vom Recht auf Information über die eigene Familiengeschichte, das Sie bereits erwähnten?
Klaus: Zum einen herrscht derzeit ein politisches Klima, in dem die Frage der Palästina-Flüchtlinge beiseite geschoben wird. Umso wichtiger ist es jetzt, dass UNRWA die Dokumente angemessen sichert. Es gibt ja auch Bestrebungen, UNRWA aufzulösen in der Annahme, dass damit das Flüchtlingsproblem gelöst wäre, was natürlich nicht der Fall ist.
Zum anderen hoffen wir, dass ein öffentlich zugängliches Archiv zu einem besseren Verständnis eines Ereignisses beiträgt, das für die Gestaltung des heutigen Nahen Ostens entscheidend war. Das Archiv wird dazu beitragen, mehr Bewusstsein für die Situation der Nachkommen der 1948 Vertriebenen zu schaffen, die bis heute auf eine gerechte und dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts warten.
Der Wert unserer Dokumente liegt darin, dass sie die Grundlage sind für den palästinensischen Flüchtlingsstatus, mit dem für die Flüchtlinge unerfüllte Rechte verbunden sind. Wer damals bei uns registriert wurde oder von einem männlichen Vertriebenen abstammt, hat heute den Flüchtlingsstatus. Daher ist es sowohl wichtig, diese Dokumente zu erhalten, als auch komplette Familienstammbäume herzustellen. Darüber hinaus gehen wir davon aus, dass alle Diskussionen auf politischer Ebene über eine gerechte und nachhaltige Lösung für die Palästina-Flüchtlinge unweigerlich auf die UNRWA-Daten zurückgreifen werden.
Der UNRWA wird vorgeworfen, dass sie den Nahostkonflikt am Leben hält, indem der Flüchtlingsstatus de facto vererbt wird. Tragen Sie mit Ihrem Projekt nicht dazu bei, den Konflikt zu verlängern, anstatt nach Lösungen zu suchen?
Klaus: UNRWA wird beschuldigt, die Flüchtlingszahlen aufzublähen, aber auch, sie zu senken, je nachdem, wer spricht. Im Rahmen des Archiv-Projekts sollen Herkunft und Zahl der 1948 Vertriebenen, ihre Migrationswege und ihre Nachkommenschaft ermittelt und transparent gemacht werden. Die Zahlen werden auf historischen Dokumenten beruhen, die überprüft werden können. Zu der Kritik: Da sich UNRWA jahrzehntelang nicht um die Öffnung der historischen Archive gekümmert hat, löst dieser Schritt jetzt bei einigen palästinensischen Parteien und Flüchtlingen Unruhe aus.
Es werden Fragen gestellt: Warum jetzt? Wozu? Das ist die eine Seite. Zur Kritik von der anderen Seite möchte ich anmerken, dass einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt zu sein scheint, wie die ungelöste Frage der Palästina-Flüchtlinge das fördert, was als "Politik des Leidens“ kritisiert wird. Diese Menschen leben weiterhin ohne international anerkannte Staatsbürgerschaft, ohne international anerkannte Reisedokumente und ohne volle Achtung ihrer Menschenrechte, während ihnen ein "Recht auf Rückkehr und Entschädigung“ versprochen wird.
"Die Vertreibung von 1948 hatte sehr traumatische Auswirkungen"
Was ändert ein Online-Archiv an der heutigen Lage der Palästina-Flüchtlinge?
Klaus: Der Zugang zum Archiv wird es ihnen ermöglichen, ihre Familiengeschichte besser zu verstehen und das teils unerkannte Trauma zu bewältigen, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde - auf kollektiver und individueller Ebene. Wir gehen davon aus, dass die Vertreibung von 1948 sehr traumatische Auswirkungen auf die erste Generation hatte. Über Leid wurde nicht gesprochen. Das wiederum hatte Auswirkungen auf die Art und Weise, wie mit Kindern umgegangen wurde. Da war kein Platz für Emotionen. Ein besseres Verständnis der Vergangenheit und die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart ermöglichen einen klareren Blick in die Zukunft.
Das ist Psychologie. Woran machen Sie das fest?
Klaus: Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass sich unverarbeitete Traumata durch die Generationen tragen und negativ in der Gegenwart auswirken. Dass es sich um ein solches Trauma handelt, haben wir an den Reaktionen von Flüchtlingen gemerkt, wenn wir ihnen Dokumente zugänglich gemacht haben. Egal welchen Alters, alle sind in Tränen ausgebrochen. Alle. Da kommt so viel zum Vorschein. Es ist wie ein Schockzustand, in den Bewegung kommt. Dass dieses Ereignis so eindrücklich und so determinierend war für das Selbstverständnis und Verhalten von Generationen, ist völlig unterbelichtet. Hier muss Aufarbeitung stattfinden, im Privaten, aber auch im Kollektiven.
[embed:render:embedded:node:14453]
Sie haben also schon Dokumente zugänglich gemacht?
Klaus: Im Rahmen eines Pilotprojekts. Ein kleines Team von 15 Leuten in Beirut arbeitet daran, Stammbäume zu vervollständigen und die Dokumente der Vertriebenen und ihrer Nachkommen jeweils für ein Dorf zusammenzuführen. Die Idee ist, dass wir Dokumentationen vorbereiten und uns mit Flüchtlingsgruppen gemeinsam darüber unterhalten. Das würde es ermöglichen, Emotionen in einem betreuten Umfeld zuzulassen. Aber wir haben noch nicht die Mittel erhalten, um das Projekt in großem Maßstab fortzusetzen und innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens abzuschließen.
Haben Sie Psychologinnen und Psychologen im Team?
Klaus: Wir arbeiten mit lokalen Institutionen zusammen, mit der American University und der St. Joseph Universität in Beirut zum Beispiel. Wir tasten uns langsam vor.
Was für einen Umfang hätte Ihr Projekt und wie viel Zeit und Geld braucht es dafür?
Klaus: Zum derzeitigen Zeitpunkt vermuten wir, dass es ungefähr fünf Jahre dauern würde, um eine komplette Übersicht über die Familienstammbäume aller registrierten Palästina-Flüchtlinge und ein öffentliches Informationsportal zu erstellen. Dazu brauchen wir ein stark erweitertes Team und ungefähr 15 Millionen US-Dollar.
Das Interview führte Jannis Hagmann.
© Qantara.de 2022
Dr. Dorothee Klaus, 53, arbeitet in der jordanischen Hauptstadt Amman für das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), das in Gaza, dem Westjordanland, Libanon, Syrien und Jordanien tätig ist. Sie ist Direktorin für Sozialhilfe und Fürsorge. Klaus hat Philosophie, Ethnologie und humanitäre Hilfe studiert und im Fach Geographie promoviert.