Geraten auch Erdogan und die AKP ins Wanken?
Die Türkei wurde am 6. Februar von zwei verheerenden Erdbeben der Stärke 7,6 und mehr heimgesucht. Über 47.000 Menschen im Süden und Südosten des Landes kamen ums Leben. Viele Türken sehen mittlerweile eine Mitverantwortung der Regierung und Behörden für das Ausmaß der Katastrophe – und die hohe Zahl der Todesopfer.
Anfang des Monats – also noch vor den Beben – drehte sich die Debatte in der Türkei vor allem um den Termin für die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die Regierung wollte die Wahlen um einen Monat vorziehen, vom 18. Juni, wie ursprünglich datiert, auf den 14. Mai. Doch drei Wochen nach den Beben ist völlig unklar, wie das Land überhaupt sichere und faire Wahlen abhalten soll. Die Katastrophe und ihre Folgen werden die politische Landschaft des Landes wahrscheinlich nachhaltig verändern. Die Tragödie wird sich auf Jahre und Jahrzehnte in das Gedächtnis von Millionen von Türken eingraben.
Auch wenn bislang noch keine Umfragen zu den politischen Auswirkungen der Beben veröffentlicht wurden: Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und ihr Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), werden von der Öffentlichkeit und der Opposition gleichermaßen heftig kritisiert. Die Vorwürfe gegenüber der Regierung lauten: unzulängliche und zu langsame Reaktion auf die Beben, mangelnde Katastrophenvorsorge in dem als erdbebengefährdet eingestuften Gebiet sowie schlechtes Krisenmanagement.
Eine "Jahrhundertkatastrophe"?
Die türkische Regierung bezeichnete die beiden schweren Erdbeben als "Jahrhundertkatastrophe“ und suggerierte damit, das Ausmaß der Zerstörung wäre nicht zu vermeiden gewesen. Präsident Erdoğan gab anfangs zwar zu, es habe Verzögerungen in der Reaktion auf die Katastrophe gegeben. Er behauptet aber, die Regierung habe die Lage anschließend unter Kontrolle gehabt. Die Menschen vor Ort berichten allerdings etwas anderes. Einheimische und ausländische Rettungsteams sowie Betroffene vor Ort betonen, dass eine mangelhafte Koordination die Bemühungen zur Rettung vieler Menschen behindert habe.
Oppositionsführerin Meral Aksener von der İyi Parti (dt. "Gute Partei“) machte das Präsidialsystem der Türkei mit der beim Staatsoberhaupt konzentrierten exekutiven Macht für Versäumnisse bei der Koordination der Katastrophenhilfe verantwortlich. "Wieder einmal sehen wir, wie langsam unsere Behörden geworden sind. In diesem monströsen System, in dem nur eine Person das Sagen hat, vermag kein Beamter Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen oder die Initiative zu ergreifen“, sagte sie bei ihrem Besuch im Erdbebengebiet.
Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionspartei, sah die Schuld ebenfalls bei Erdoğan. Die Katastrophe des Jahrhunderts sei dieses "Ein-Mann-Regime“, sagte er. "Dieses Ein-Mann-Regime kann keine Entscheidungen treffen. Die Rettungsmaßnahmen wurden überhaupt nicht koordiniert und kamen zu spät. An den Händen der Regierung klebt das Blut unserer Bürger“, so Kılıçdaroğlu.
Kommunikationsdesaster der Regierung
Kılıçdaroğlu stellte zudem den Kommunikationsdirektor des Präsidenten, Fahrettin Altun, in die Nähe von NSDAP-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Der Vergleich war eine Antwort auf ein Video, das auf dem Twitter-Account "Asrin Felaketi“ (Jahrhundertkatastrophe) gepostet worden war. In dem Post wurde die Behauptung aufgestellt, dass keine Regierung eine derart gewaltige Katastrophe hätte verhindern können.
Es wird vermutet, dass die Kommunikationsdirektion des Präsidenten Urheber des Videos ist. Nach einer massiver Empörungswelle in den sozialen Medien wurde der Account jedoch wieder geschlossen.
Doch das war nicht das erste Kommunikationsdesaster der Regierung während der Nachbeben. Am zweiten Tag nach dem Beben schränkte die Regierung den Zugang zu Twitter ein, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Social-Media-Plattform eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen von Hilfsorganisationen spielte, ihre Rettungsmaßnahmen zu koordinieren.
Erst zehn Stunden später wurde der Zugang wieder freigegeben. Die Regierung nannte keinen Grund für die Beschränkungen. Bekannt wurde allerdings, dass mitten in dem katastrophalen Chaos ein Treffen zwischen Vertretern der Regierung und Vertretern von Twitter stattgefunden hat.
Der Vizeminister für Verkehr und Infrastruktur, Ömer Fatih Sayan, sagte, die Regierung habe Twitter zum Eingreifen aufgefordert, um die Verbreitung von Desinformation zu verhindern. Viele Kritiker sehen in der Twitter-Sperre allerdings den Versuch der Regierung, Kritik zu unterbinden. Erdoğan wies dies als "Lüge“ und "Verleumdung“ zurück und bezeichnete seine Kritiker als "Ehrlose“.
Innenminister Süleyman Soylu, dem das türkische Amt für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD) untersteht, erklärte, die "Lügen“ seien ein Sicherheitsproblem. Er verteidigte die Behörde mit dem Hinweis, die rund 7.300 Mitarbeiter starke AFAD sei lediglich eine Koordinationsstelle. Rettungskräfte, die die Maßnahmen vor Ort koordinieren sollten, seien ebenfalls von den Beben betroffen gewesen. Daher die späte Reaktion.
Die AFAD steht seither in der Kritik: Es mangele an Ausrüstung; sie sei daher nicht in der Lage, die Rettung der unter den Trümmern verschütteten Menschen wirksam zu unterstützen; und ihrer Leitungsebene fehle es an ausreichender Sachkenntnis.
Auch die Regierung steht im Kreuzfeuer der Kritik. Sie habe das Land nicht auf drohende Erdbeben vorbereitet, obwohl sie seit über 20 Jahren an der Macht ist. Im Zuge dieser Kritik fragen viele Menschen, wohin die "Erdbebensteuer“ in Milliardenhöhe eigentlich geflossen ist, die die Regierung seit dem verheerenden Erdbeben in Marmara im Jahr 1999 erhebt.
Laut dem Steuerfachmann Ozan Bingöl hat der Staat seither rund 38,2 Milliarden US-Dollar an Erdbebensteuer eingenommen. Die Türkei müsse sich fragen, wofür diese Gelder ausgegeben worden seien, und die Rechtsvorschriften für öffentliche Ausschreibungen und die Möglichkeit der sog. "Bauamnestie“ (die nachträgliche Legitimierung von Gebäuden, die illegal gebaut wurden, Anm. der Red.) überprüfen.
Duldung illegal errichteter Gebäude
Diese fragwürdige Praxis der Regierung kommt jetzt ans Licht. In den letzten 20 Jahren haben die Behörden neun sog. "Bauamnestien“, zuletzt im Jahr 2018, gewährt. Dabei wurden gegen Zahlung eines Geldbetrags Gebäude, die als "illegal“ eingestuft waren, genehmigt und vor dem Abriss bewahrt. Diese "Amnestien“ wurden auch dann gewährt, wenn die Gebäude nicht den Sicherheits- und Bauvorschriften entsprachen.
Mit dieser Vorgehensweise wurden illegale Bauweise und eine mangelnde Bauaufsicht stillschweigend geduldet. Erdoğan selbst hat sich bei zahlreichen Gelegenheiten offen für dieses Vorgehen ausgesprochen, so auch im Vorfeld der Kommunalwahlen im Jahr 2019 in Kahramanmaraş, dem Epizentrum der jüngsten Erdbeben.
Viele Organisationen sind in den Erdbebengebieten tätig geworden, um den Überlebenden zu helfen. Eine Organisation trat dabei besonders hervor: die AHBAP. Sie genießt in der Öffentlichkeit großes Vertrauen, nicht zuletzt weil sie sich zur Transparenz verpflichtet hat und dabei mit einer lokalen und internationalen Wirtschaftsprüfungskanzlei zusammenarbeitet. Der Vorsitzende der zusammen mit der AKP regierenden Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, nimmt die AHBAP jedoch zunehmend ins Visier.
Außerdem versucht die Regierung, von der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) organisierte Hilfsaktionen in bestimmten Gebieten zu unterbinden. So wurde ein von der HDP in die südliche Provinz Osmaniye entsandter Lastwagen mit Hilfsgütern von der Polizei beschlagnahmt.
Die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, forderte Erdoğan wegen der dürftigen Katastrophenhilfe seiner Regierung zum Rücktritt auf. "Während wir den Menschen geholfen haben und versuchten, die (Opfer) zu erreichen, legt uns die Regierung Steine in den Weg. Es ist unsere Pflicht, die AKP-MHP-Regierung abzuwählen“, fügte sie hinzu.
Angesichts der Kritik rief die AKP dazu auf, die Angelegenheit nicht zu politisieren. Am 15. Februar sagte AKP-Sprecher Ömer Çelik, man werde sich nicht auf eine politische Diskussion einlassen, sondern den Bürgern im Erdbebengebiet beistehen und ihnen bei der Bewältigung der Krise helfen. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu prangerte umgehend die gesamte Situation an. "Das ist durchaus politisch. Wir befinden uns wegen [Erdoğans] Politik in dieser Lage “, sagte er.
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Die Wahlaussichten
In den Wochen vor den Erdbeben hat die Türkei darüber diskutiert, ob die Allianz aus AKP und MHP angesichts der hohen Inflation die bevorstehenden Wahlen gewinnen könne.
Der erfahrene AKP-Politiker Bülent Arınç schlug vor, die Wahlen zu verschieben, da faire und sichere Wahlen wegen der Folgen der Erdbebenkatastrophe nicht garantiert werden könnten. Bislang spielt die Regierung diesen Vorschlag herunter. Die anderen Parteien sind strikt dagegen: Laut türkischer Verfassung dürfen Wahlen nur im Kriegszustand und nur für sechs Monate verschoben werden.
Die Tragödie des Marmara-Erdbebens von 1999 ist vielen Türken noch sehr präsent. Auch damals wurde die Regierung für ihre Versäumnisse verantwortlich gemacht – vor allem von den Medien, die ihre Kritik noch offener äußern durften.
Die ersten Parlamentswahlen nach dem Erdbeben von 1999 fanden 2002 statt. Die damalige Regierung verlor dabei ihr Mandat. Die damals neu gegründete AKP stellte sich als Partei dar, die in der Lage sei, die Wunden zu heilen und in der Politik neue Wege zu beschreiten. Nach gewonnener Wahl sollte sie die Türkei für die nächsten zwei Jahrzehnte regieren.
Wird die AKP, die sich nach dem Erdbeben von 1999 als Retterin der Nation präsentieren konnte, nach dem Erdbeben von 2023 abgewählt?
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Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Lammers.