Wenn sexuelle Belästigung alltäglich wird
Die prominente ägyptische Frauenrechtlerin Nihad Abu al-Qumsan, Leiterin des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte, kämpft für die Einführung eines Gesetzes, das sexuelle Belästigung zum Straftatbestand macht. Denn Belästigungen auf den Straßen Ägyptens haben ein beunruhigendes Ausmaß angenommen. Mit Nihad Abu al-Qumsan sprach Nelly Youssouf in Kairo.
Meinungsumfragen haben ergeben: Ägyptische Frauen müssen mittlerweile überall mit sexuellen Übergriffen rechnen, sei es nun auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder gar bei der Arbeit. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Gründe für die massive Zunahme derartiger Fälle?
Nihad Abu al-Qumsan: Sowohl Fälle von sexueller Belästigung durch Einzelne als auch durch ganze Horden von Männern haben in jüngster Zeit stark zugenommen. Dies hängt hauptsächlich damit zusammen, dass auf den Straßen Ägyptens zwar der Staat und das System geschützt werden, nicht aber die Menschen. Und da meint jetzt so mancher, sich alles erlauben zu können, frei nach dem Motto: Es stört sich ja doch keiner daran!
Infolge des enormen wirtschaftlichen Drucks, der bedrängenden räumlichen Enge und des religiös-fundamentalistischen Diskurses staut sich außerdem Frust auf, der dann an Frauen ausgelassen wird. Viele Täter glauben dabei noch, sie handelten nach "alter orientalischer Sitte". Eine derart irregeleitete Reduzierung von Frauen auf ihren Körper als Objekt hat aber weder mit "guten alten Traditionen" noch mit einem wohlverstandenen Islam etwas zu tun.
Des Weiteren steigen die Arbeitslosenzahlen, so dass immer weniger Männer es sich leisten können zu heiraten – was in einer Gesellschaft, wie der unseren zwangsläufig dazu führt, dass sie ihre sexuellen Bedürfnisse unterdrücken müssen. Auf der Straße herrschen damit ohnehin schon Willkür, Achtlosigkeit und Desinteresse, und so verschärft sich die Problematik zusehends.
Welche Initiativen hat das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte ergriffen, um gegen sexuelle Belästigung vorzugehen?
Abu al-Qumsan: Wiederholt gingen bei uns Beschwerden von Frauen über unterschiedlichste Formen sexueller Belästigung ein. Das Spektrum reichte von schlüpfrigen Bemerkungen über anzügliche Gesten und Begrabschen bis hin zu aufdringlichen Komplimenten und regelrechten Verfolgungsjagden auf offener Straße.
Daraufhin haben wir mehrere Studien durchgeführt, die alle vor allem eins belegen: Zu sexuellen Belästigungen kommt es unabhängig von Alter, Kleidung oder Tageszeit. Frauen werden einfach nur deshalb zu Opfern, weil sie eben Frauen sind. Des Weiteren zeigte sich, dass überdurchschnittlich häufig Touristinnen betroffen sind. Auch mit Blick auf die weltweite Finanzkrise handelt es sich also um einen gefährlichen Trend, denn der Tourismus als wichtiger Wirtschaftszweig in Ägypten ist damit bedroht. Ausländische Botschaften warnen Touristinnen bereits vor der Gefahr von Übergriffen.
Wir haben im Rahmen unserer Kampagne gegen sexuelle Belästigung zahlreiche Initiativen angestoßen, wie beispielsweise die Initiative "Sichere Straßen für alle". Dabei haben wir durch verschiedenste Veranstaltungen in Jugendclubs und Kulturzentren über das Problem aufgeklärt und ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es hier ein Tabu zu brechen gilt.
Wir haben Mädchen und Frauen dazu ermuntert, Belästigungen nicht länger schweigend hinzunehmen, sondern sich lautstark dagegen zu wehren oder auch Anzeige zu erstatten, selbst wenn es oft schwer genug ist, gegenüber der Polizei den entsprechenden Vorfall zu beweisen. Und es setzt auch die Bereitschaft voraus, sich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu stellen, für die immer noch stets die Frau, also das Opfer, die Schuld trägt.
Nuha Rushdi, eine junge Ägypterin, wagte es als erste, Anklage gegen einen Mann zu erheben, der sie belästigt hatte und in der Folge zu drei Jahren Haft verurteilt wurde – ein Präzedenzfall in Ägypten. Gibt das Anlass zu der Hoffnung, dass junge Frauen sich nun offen gegen dieses Phänomen zur Wehr setzen?
Abu al-Qumsan: Wir vom Zentrum haben uns daraufhin auch an einer Kampagne unter dem Motto "Zeig, was Gutes in dir steckt – in Ägypten gibt es noch richtige Männer!" beteiligt.
Diese Anzeigenkampagne auf Straßen, an Hochschulen und bei Facebook forderte junge Männer dazu auf, junge Frauen zunächst einmal nicht zu belästigen und sie in Schutz zu nehmen, wenn ein anderer ausfällig wird. Damit wollten wir traditionelle männliche Werte, wie Ritterlichkeit und Zivilcourage, wiederbeleben und ein Zeichen setzen gegen die momentan herrschende Kultur des Wegschauens.
Sie betonen immer wieder, dass solche Initiativen allein nicht ausreichen, sondern dass es eines neuen, eindeutigen und wirksamen Gesetzes gegen derartige Straftaten bedarf. Warum gibt es dieses Gesetz bis heute nicht?
Abu al-Qumsan: In Ägypten mahlen die Mühlen langsam. Wir werden aber weiter am Ball bleiben und uns dafür einsetzen, dass ein gesondertes Gesetz gegen sexuelle Belästigung eingeführt wird.
Unabdingbar muss auch ein abschreckender Strafkatalog sein, um die rechtliche Lücke zu schließen, die hier im ägyptischen Strafgesetz noch klafft. Derzeit wird sexuelle Belästigung lediglich mit Haftstrafen von einem Monat bis zu maximal drei Jahren und Geldbußen in Höhe von 200 bis 300 ägyptischen Pfund geahndet. Das ist lächerlich wenig.
Zwei neuere Gerichtsurteile geben jedoch Anlass zur Hoffnung. Im ersten Fall wurde ein Mann wegen Belästigung zu drei Jahren Haft verurteilt, nur wenige Wochen später dann ein anderer zu einem Jahr für seine Mittäterschaft bei einer kollektiven Belästigung im Stadtbezirk Mohandessin im Zentrum Kairos während des Fastenmonat Ramadan. Wir hoffen also, dass ein entsprechender Gesetzesentwurf in der kommenden Legislaturperiode bald dem Parlament vorgelegt werden kann.
Dieser Entwurf wurde von Juristen und Sozialwissenschaftlern in Kooperation mit dem Nationalen Frauenrat nach intensivem Studium ähnlicher Gesetze in anderen arabischen Ländern, wie zum Beispiel Qatar und den Emiraten, erarbeitet und sieht einerseits eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren sowie eine Geldbuße vor, auch sollen solche Vergehen als Straftaten gewertet werden. Eine diesbezügliche Verurteilung würde damit auch im Führungszeugnis des Betroffenen erscheinen.
Kürzlich konnte man den Medien entnehmen, dass bereits 500 ägyptische Frauen einen Waffenschein erworben haben. Andere Frauen verlassen sich dagegen lieber auf ein Abwehrspray, wenn sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Müssen sich Frauen mit Gewalt selbst verteidigen, weil sie sonst niemand schützt?
Abu al-Qumsan: Manche Frauen lernen zum Beispiel auch Karate. Ich begrüße das, denn ägyptische Frauen müssen möglichst vielfältig in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Die Leute auf der Straße ergreifen ja immer eher für den Angreifer Partei und nicht für das Opfer, das sie stattdessen beschuldigen, den "armen Mann" durch aufreizende Art oder Kleidung provoziert zu haben. Und dass, obwohl unsere Studien eindeutig belegen, dass unterschiedlichste Frauen Opfer von Belästigungen werden, sogar die, die ein Kopftuch oder gar einen Gesichtsschleier tragen.
Die ägyptische Gesellschaft in ihrer heutigen Form zwingt Frauen dazu, sich mit Gewalt selbst zu verteidigen, denn sie ist machistisch geprägt, ebenso von religiös-extremistischen Strömungen, deren Anhänger die dringend erforderliche Einführung von Sexualkundeunterricht in der Schule, wie wir es in unseren Kampagnen fordern, vehement ablehnen.
Interview: Nelly Youssouf
© Qantara 2009
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas
Das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte ist eine 1996 gegründete Nichtregierungsorganisation.
Qantara.de
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Webseite des Zentrums für Frauenrechte www.ecwronline.org