Ein Meister ohne Meisterwerke?

Sein jüngster Roman wurde von der Kritik verhalten positiv aufgenommen, aber ob mit oder ohne "Die bezaubernde Florentinerin" – der aus Bombay stammende Autor Salman Rushdie ist ein leuchtendes Beispiel eines aufgeklärten Intellektuellen, schreibt Lewis Gropp.

​​ Von seiner literarischen Anlage muss man Salman Rushdie zu den größten lebenden Gegenwartsautoren rechnen. Sein intellektueller Bildungshorizont, seine poetische Schwärmerei für die Fülle und Pluralität der Welt und seine humanistisch-kritische Schärfe prädestinieren ihn geradezu für die hehre Aufgabe der "Weltliteratur".

Seine eigene, dramatische persönliche Geschichte eröffnet ihm die Möglichkeit, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Ost und West als Inspirationsquelle zu nutzen, welches in seiner Ausformung als "Kampf der Kulturen" die gesamte Welt in Atem hält. Rushdies Begriff von der Migration als universelles Sinnbild für eine globalisierte Welt ist eine griffige Metapher, die sich noch lange nicht erschöpft hat.

Italienische Renaissance und islamisches Indien

Doch seit "Des Mauren letzter Seufzer" von 1995 brilliert Rushdie eher in seinen Essays und Interviews denn als Romancier. Lustvoll drehten Kritiker seinen Roman "Wut" von 2001 durch den Fleischwolf der Kritik. Fast könnte man sagen, der Mann aus Bombay ist zu einem Meister ohne Meisterwerke geworden. Dabei ist die Idee für seine Anfang März erschienene "Bezaubernde Florentinerin" ungewöhnlich und interessant.

Der italienischen Wiege der Renaissance stellt er das aufgeklärte Mogul-Reich Akbars des Großen gegenüber und hinterfragt so die Vorstellung der Exklusivität der abendländischen Kultur und ihrer Werte.

Akbar, der Indien von 1556-1605 als Großmogul regierte, war so etwas wie der indische Friedrich der Große – ein Soldatenkönig, der gleichzeitig als Philosoph und Denker agierte, Territorium mit Gewalt eroberte, dieses aber klug und mit einer Politik des Ausgleichs regierte.

Füllhorn spätmittelalterlicher Kulturgeschichte

Salman Rushdie; Foto: dpa
Salman Rushdie nutzt die eigene dramatische persönliche Geschichte als Inspirationsquelle, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Ost und West literarisch darzulegen.

​​ Das islamische Indien stellt Rushdie also neben das Florenz der Aufklärung, und dies tut er, indem er einen gewissen Vespucci nach Osten an Akbars Hof reisen lässt, wo er, der blonde Europäer, verkündet, er sei Akbars Onkel!

In Anlehnung an 1001 Nacht lässt Rushdie seinen Vespucci dem mächtigen orientalischen Herrscher Geschichten erzählen – ein veritables Füllhorn an spätmittelalterlicher europäischer Kulturgeschichte wird da über dem Leser ausgeschüttet.

Im Nukleus ist es wieder eine Frau – und ihre erschütternde Schönheit –, die die beiden Welten miteinander verbindet. In ihrer Kritik in der New York Review of Books hat Joyce Carol Oates noch gelästert, Rushdies Darstellungen attraktiver Frauen hätten Züge von einem Fetisch, aber sei's drum.

Rushdie fabuliert wie im Rausch, und es gibt nicht viele, die sich literarisch mit ihm messen können. Doch wie Aristoteles schon sagte: Manchmal ist das Schlechte nichts anderes als das Gute im Übermaß.

Von Gutenberg zu Google

Dennoch: In dem Roman steckt so viel erlesene Gelehrsamkeit, dass es eine Lust ist, dem Meister bei der Entschlüsselung seines Werkes zuzuhören. Ein besonders interessanter Exkurs zu "Die bezaubernde Florentinerin" ist in der Serie Authors@Google entstanden (Link zum Video siehe unten):

Hier parliert Rushdie zunächst einmal über den Zusammenhang vom gedanklichen Austausch und den jeweils zeitgenössischen Medien und preist überzeugend die Möglichkeiten des modernen Internets. "Viele der relevanten Quellen waren über das Internet zugänglich, allein der Zugriff auf die Seite Persian Literature in Translation hat mir ein halbes Jahr Arbeit erspart!"

Akbar bändigt einen Elefanten; Quelle: Wikipedia
Das Europa der Renaissance und das Indien der islamischen Mogul-Zeit waren von kolossalen Neuerungen geprägt, so Rushdie, von künstlerischem und kulturellem Wandel – und menschlicher Brillanz.

​​ Stilistisch leichtfüßig und elegant behandelt er dann die großen, unhandlichen Fragen von Literatur und Identität, wie sich die Gegenwart in der Vergangenheit spiegelt, und dass, wenn man etwas über das Phänomen Tyrannei erfahren möchte, das 15. und 16. Jahrhundert zahlreiche Lektionen beinhaltet, ebenso wie in punkto Genialität und Innovation.

Das Europa der Renaissance und das Indien der islamischen Mogul-Zeit waren von kolossalen Neuerungen geprägt, so Rushdie, von künstlerischem und kulturellem Wandel – und menschlicher Brillanz.

"Ich erzähle das alles", so der Autor in Anspielung auf die Entdeckung der Neuen Welt im 15. Jahrhundert, "weil auch wir in einer Zeit erstaunlicher Umwälzungen und Veränderungen leben, und weil ich dazu anregen möchte, sich vorzustellen, wie es damals gewesen sein muss, als nahezu alles, was man über die damalige Welt wusste, sich als falsch herausstellte, dass diese Welt tatsächlich eine ganz andere Welt war."

Wandelnde Identitäten

Angesprochen auf die Kontroverse um seinen Roman "Die satanischen Verse" kommt Rushdie dann noch mal auf dieses Phänomen zu sprechen: dass Reisen die eigenen Selbst- und Weltbilder fundamental in Frage stellen kann.

Darum – und nicht um Religion – sei es ihm bei den "Satanischen Versen" eigentlich gegangen: "Wenn ein Migrant seine Heimat verlässt und sich in einer neuen Umgebung niederlässt, wird er zwangsläufig mit einem Akt radikaler Infragestellung konfrontiert: Was möchtest Du erhalten, was willst Du ablegen? Was von dem Neuen nimmst Du an, was davon lehnst Du ab?"

Diese Fragen seien mit schweren Entscheidungen verknüpft, die ein ganzes Leben lang hinziehen können, sich manchmal sogar über mehrere Generationen erstrecken, erklärt Rushdie, und das sei das eigentliche Thema der "Satanischen Versen".

Natürlich aber betrifft dieser radikale Akt der Infragestellung letzten Endes auch den Glauben, erklärt Rushdie. Ihm sei es jedoch nie um eine bestimmte Religion gegangen, sondern um das Phänomen des Glaubens, und darum, was passiert, wenn dieser in Frage gestellt wird. "Einige Leute wollen aber offensichtlich nicht mit diesen Fragen konfrontiert werden."

Lewis Gropp

© Qantara.de 2009

Salman Rushdie: Die bezaubernde Florentinerin. Übersetzt von Berhard Robben. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009, 448 Seiten, 19,90 €

Qantara.de

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