Trotz alledem!
Schon lange bevor der Begriff geprägt wurde, waren die Ägypter sehr stolz auf die "Soft Power" ihres Landes, und dies zu Recht. Ägypten ist das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt. Es verfügt über die mächtigste Armee, eine zentrale geografische Lage und einflussreiche Intellektuelle.
Wenn Kairo niest, so wurde oft gesagt, bekommt die gesamte Region eine Erkältung. Wie schon der ehemalige US-Verteidigungsminister Henry Kissinger betonte, kann ohne Ägypten kein arabischer Krieg gegen Israel geführt werden. In der Tat war Ägypten einmal der Trendsetter der Region und hat in den 1950ern und 1970ern den Weg für die jeweiligen Kriegs- und Friedensverhandlungen mit Israel bereitet.
Auch die zahlreichen Auswirkungen der kulturellen Einflüsse Ägyptens sind allgegenwärtig. Die ägyptische Umgangssprache wird im Gegensatz zu anderen arabischen Dialekten weithin verstanden und erfreut sich großer Beliebtheit. Fast überall in der Region ist die Präsenz ägyptischer Kunst sichtbar – in Form von Musik, Filmen und Fernsehserien.
Kairo schreibt, Beirut veröffentlicht und Bagdad liest
In den Straßen von Fes, den Souks von Muskat und den Nachtclubs von Beirut hört man häufig die Lieder des ägyptischen Kultsängerin Oum Kalthoum. Und seit langer Zeit ist Ägypten der Geburtsort von Ideen, die Quelle von Wissen und Drehscheibe politischer Ideologien: "Kairo schreibt, Beirut veröffentlicht und Bagdad liest", wie das klassische Sprichwort sagt.
Aber auch wenn die "Soft Power" Ägyptens in der arabischen Welt einzigartig war, so hat sie doch in den letzten Jahrzehnten deutlich nachgelassen. Politisch hat Ägypten in den späten 1970er Jahren, als das Land das Lager der Israelgegner verließ, einiges von seiner Beliebtheit eingebüßt. Gleichzeitig wandelte sich der politische Schwerpunkt der arabischen Welt von der Brutstätte der "thawra" hin zu den Grundlagen des "tharwa", also von der Revolution hin zum Wohlstand. Und in den darauf folgenden Jahrzehnten scheint Ägypten deutlich an Ehrgeiz und Selbstvertrauen verloren zu haben.
Ein Bevölkerungsboom, nachlassende Ressourcen und ökonomische Misswirtschaft führten zu langwierigen sozioökonomischen Krisen und der Ausbreitung von Armut. Und jetzt leidet Ägypten zu sehr unter seinen eigenen Sorgen, als dass es noch erheblichen Einfluss auf seine Nachbarn ausüben könnte.
Regressiver Trend
Das Bild, das andere Araber heute in Bezug auf Ägypten haben, wird von einer explodierenden Bevölkerung bestimmt, die durch vielfältige Hindernisse eingeschränkt ist. Die Städte sind verarmt und überbevölkert, und die Gesellschaft fällt unter dem Druck sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Spaltungen beinahe auseinander.
Alles in allem ist das Land in einem bemitleidenswerten Zustand. Darüber hinaus befindet es sich im Griff eines autoritären Regimes, das den Kontakt zur Welt verloren hat, und wird von einer müden Wirtschaft gebremst, die nicht in der Lage ist, die Bürger des Landes zu ernähren.
Als sich nach dem Ölboom der 1970er Jahre eine neue Ordnung entwickelte, wehte ein Sturm der Veränderung durch die Region. Die Araber der Golfstaaten, die traditionell im Schatten Europas standen, haben sich massiv verändert. Durch enorme Mehreinnahmen wurden sie von einfachen Beduinen, die Kamele und Schafe hüteten, zu Unternehmern, die Ideen verbreiten, und zu Investoren, die Hochhäuser errichten. Die Entwicklung dieser Staaten hat weithin Bewunderung ausgelöst, und im Zuge ihrer Erfolgsgeschichten verlor das von Armut gebeutelte Ägypten immer mehr an öffentlicher Aufmerksamkeit.
Glückliche Golfaraber
Dubai hingegen wurde zum Handels- und Unterhaltungszentrum und zu einem nachahmenswerten Symbol der Modernität. Qatar wird 2022 voraussichtlich das erste arabische Land sein, in dem eine Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Und die Vereinigten Arabischen Emirate haben im Februar erstmals einen Minister für Glück ernannt, um "soziale Werte und Befriedigung zu schaffen".
Im Gegensatz dazu scheint die Hauptbeschäftigung der Ägypter darin zu bestehen, sich zu beschweren. Das Vertrauen des Landes ist erschüttert, seine Stimmung ist gedrückt und sein Stolz ist verwundet. Für Ägypter ist die Idee des Glücks weit entfernt und unwirklich. Bestenfalls ist sie ein vager Traum und schlimmstenfalls ein Ding der Unmöglichkeit. In der Tat interessieren sich die meisten Bürger des Landes angesichts der enormen Härten des Lebens nur noch für El-Satr, für Schutz und Versorgungssicherheit.
Aber trotz alledem gibt es in der Dunkelheit der ägyptischen Gegenwart immer noch ein paar Hoffnungsschimmer. Große Nationen sterben oder verschwinden nicht einfach über Nacht. Trotz seiner drängenden Probleme ist Ägypten weiterhin ein Ort voller Leben und Aktivität. Die pulsierende Seele des Landes hat immer noch eine große Anziehungskraft, und in jüngster Vergangenheit konnte Ägypten einige Male die Fantasie und die Herzen seiner Nachbarn beflügeln.
Der verheißungsvolle Umbruch
Beispielsweise staunten die Araber über die mitreißenden Bilder der Revolution des Jahres 2011. In der Tat war es inspirierend zu beobachten, wie sich friedliche Demonstranten mutig der Polizei widersetzten, und, während sie von Wasserwerfern beschossen wurden, an der Kasr-al-Nil-Brücke fromme Gebete sprachen – wie sie den Tahrir-Platz in ein revolutionäres Zentrum der Musik und Satire verwandelten und schließlich einen Despoten, der seit 30 Jahren an der Macht war, nach weniger als drei Wochen Protest zum Rücktritt zwangen.
[embed:render:embedded:node:14449]Die Revolution war jung, lebendig und verheißungsvoll. Sie war nicht weniger als ein Erdbeben, das sich anschickte, die alte Welt zu erschüttern – alte Politiker, alte Institutionen und alte Mentalitäten.
Und eine Aura der Faszination umgibt auch Bassem Youssef, den politischen Satiriker, der nach der Revolution von 2011 bekannt wurde. Youssef, der als der ägyptische Jon Stewart bezeichnet wurde, setzte seinen Sinn für Humor und sein Charisma dafür ein, Autoritätspersonen gnadenlos zu verspotten: den Präsidenten, die Politiker, die hohen Tiere und die religiösen Führer. Während der Ausstrahlung seiner wöchentlichen Sendung (die im Juni 2014 abgesetzt wurde), saßen die Araber vom Mittelmeer bis an den Golf wie festgenagelt vor dem Fernseher.
Trotz des besonderen ägyptischen Charakters der Show konnten auch viele andere Araber etwas damit anfangen. Immerhin waren ihre Sorgen und Hoffnungen denjenigen der Ägypter sehr ähnlich. Und einen ähnlichen Effekt hatten bereits Jahrzehnte zuvor die treffenden politischen Verse des Volksdichters Ahmed Fouad Negm (1929 - 2013), die den Stimmlosen eine Stimme gaben. Negm war rebellisch, unverblümt und witzig. Seine Gedichte über Revolution und Liebe sind in der arabischen Welt heute noch beliebt.
Der Geist des Widerstands
Was haben all diese Beispiele gemeinsam? Mit einem Wort: den Widerstand. Wo das Gefühl der Niederlage überwältigend ist, wird der Geist des Widerstands attraktiv. Eine Generation arabischer Menschen nach der anderen ist zutiefst frustriert über manche Realitäten, die unveränderlich erscheinen: über Autokraten, die in ihren Republiken und Königreichen Angst und Schrecken verbreiten, über die militärische Überlegenheit Israels in der Region und seine Unterdrückung der Palästinenser sowie über den immer größeren wissenschaftlichen und technologischen Abstand der arabischen Welt zu den Industriestaaten.
Und so wird die Art, wie sich die Araber selbst sehen, durch Hilflosigkeit bestimmt. Immer noch fühlen sie sich zerrissen zwischen einer Kultur, die die Männlichkeit verherrlicht, und einer Wirklichkeit, die von Niederlagen und Demütigungen durchtränkt ist.
Auf jede Aktion, so erklären uns die Gesetze der Physik, erfolgt eine gleichwertige und gegensätzliche Reaktion. In den Sozialwissenschaften gilt dies allerdings nicht, und insbesondere nicht in der arabischen Welt, wo die Menschen in einen Ozean der Verzweiflung gesunken sind und über die erbärmliche Gegenwart sowie eine Geschichte verpasster Gelegenheiten klagen.
In einem solchen Umfeld ist Widerstand ein psychologisches Heilmittel, eine kathartische Erfahrung. Ob er nun als Mittel zum Zweck oder als Selbstzweck gesehen wird: Widerstand trägt dazu bei, dass sich besiegte Menschen wieder menschlich, lebendig und tatkräftig fühlen. In seiner Kairo-Trilogie schrieb der Nobelpreisträger Naguib Mahfouz, Gott habe den Menschen nur deshalb sexuelle Instinkte eingepflanzt, um sie das Glück des Widerstands spüren zu lassen.
Die Entwicklung der Menschen
Will sich Ägypten – nicht der Staat, das Regime oder die Regierung, sondern die Nation – aus der Asche der Niederlage emporheben, liegt seine beste Chance darin, die Flagge des Widerstands zu hissen, aber nicht irgendeiner Form des Widerstands. Um die Rückschläge zu verhindern, von denen viele solche Versuche in der Vergangenheit begleitet wurden, sollte dieser Widerstand nicht in einem leeren Raum stattfinden – ohne Bewusstsein seiner Grenzen, abgehoben von der Realität, voller Torheit und zum Scheitern verurteilt.
Eine bessere und fruchtbarere Form des Widerstands ist diejenige, deren Zweck die Entwicklung der Menschen ist. Die Menschen müssen bewusster werden und brauchen eine bessere Ausbildung, mehr Zielgerichtetheit und eine Vision für die Zukunft. Der Widerstand, der in der Mitte zwischen Schweigen und Gewalt steht und mit Ausdauer und Beharrlichkeit geführt wird, muss den vorherrschenden Zuständen entgegenwirken und gleichzeitig friedlich ablaufen.
Die Schwächen Ägyptens sind in erster Linie seine Fügsamkeit und seine träge Ignoranz. Ob sich das Land über seine Wunden erheben wird, hängt davon ab, ob es den Staub von seiner Seele abschütteln kann. Das Heilmittel für Ägypten ist nicht der Status Quo des Landes, sondern sein Willen, seine Tatkraft und sein Widerstand.
Nael Shama
© OpenDemocracy 2016
Der ägyptische Politikwissenschaftler Nael Shama ist Verfasser des Buches "Egyptian Foreign Policy from Mubarak to Morsi" und "Egypt before Tahrir: Reflections on Politics, Culture and Society".
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff