Irgendwie sind es immer die anderen

Unsere Maßstäbe für Gewalt sind unpolitisch geworden: Entsetzen herrscht über die Taten Einzelner. So ist kritisches Denken nicht möglich. Ein Debattenbeitrag von Charlotte Wiedemann

Essay von Charlotte Wiedemann

Als ein junger Mann in Japan kürzlich neunzehn Leben in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung auslöschte, lag es nahe, an den Begriff "unwertes Leben" zu denken. Der Täter hatte als Motiv angegeben, es sei besser, wenn Behinderte verschwänden. Als diese Haltung auf eine große Zahl von Menschen bezogen wurde und das Töten systematischen Charakter hatte, wurde es Euthanasie genannt.

Unser Entsetzen über die Tat des Japaners ist jung und frisch, während der Horror der Euthanasie kaum erinnert wird. So geschieht es in diesen Tagen häufig: Die Gewalt scheint neu auf die Welt gekommen, und wir blicken sie an, schockiert und fasziniert, als sei sie etwas Fremdes, nie Dagewesenes. Ein Eindringling.

Unsere Vorstellung davon, was Gewalt überhaupt ist, illegitime, Leben vernichtende Gewalt, klammert sich immer mehr an spektakuläre Taten einzelner schlimmer Menschen oder Banden. Ihr Gegenüber ist die staatliche Gewalt. Sie verfolgt und tötet legitim, jedenfalls auf unserer Seite der Welt, in Deutschland, im westlichen Europa.

Die Grenze zwischen der schlimmen und der guten Gewalt mag anderswo löchrig sein, schon in den USA, aber bei uns darf sie nicht infrage gestellt werden. Renate Künast wurde darüber belehrt, dass eine Abgeordnete nicht befugt ist, die Notwendigkeit eines Todesschusses zu bezweifeln.

Die Gleichgültigkeit, mit der die europäische Öffentlichkeit auf die Barbarei von Aleppo blickt, hat zumindest eine Ursache darin, dass Baschar al-Assad immer noch ein Rest Legitimität zugestanden wird für seine staatliche Gewalt. Richtet sie sich nicht gegen das strukturlos Schlimmere?

Gestus der Legitimität

Die Menschen, die durch europäische Grenzpolitik im Mittelmeer zu Tode kommen, waren aus europäischer Sicht offenbar unwertes Leben. Das klingt zu hart? Europa tötet sie mit der Gewalt seines Grenzregimes, also mit legitimer, guter Gewalt.

Bootsflüchtlinge im Mittelmeer; Foto: Reuters/Marina Militare
Die Menschen, die durch europäische Grenzpolitik im Mittelmeer zu Tode kommen, waren aus europäischer Sicht offenbar unwertes Leben. Das klingt zu hart? Europa tötet sie mit der Gewalt seines Grenzregimes, also mit legitimer, guter Gewalt.

Die Schlepper gehören hingegen auf die Seite des ­Illegitimen, des Bösen. Sie erschießen sogar aus purer Profitgier einzelne Flüchtlinge, die sich ihrem Regime nicht fügen. Das bringt uns auf. Und was sich unter den Flüchtlingen auf den Booten abspiele, meinte kürzlich ein Freund zu mir, sei doch genauso schlimm wie das Grenzregime.

Eine fatale Verwechslung von Ursache und Wirkung. Es geschieht auf einem Kreuzfahrtschiff eher selten, dass jemand das Baby eines Mitreisenden über Bord wirft, weil er das Schreien nicht mehr ertragen kann.

Angesichts der Gleichgültigkeit gegenüber dem strukturellen Töten auf dem Mittelmeer muss eine andere Frage gestellt werden: Was, wenn dies noch gar nicht die große Armutswanderung ist? Und es ist sie nicht. Die Öffentlichkeit wurde in eine endzeitliche Stimmung hineingequatscht: Als gehe es jetzt um alles; als seien Entscheidungen über letzte Mittel zu fällen, an einem Wendepunkt der Geschichte. Zu welcher Gewalt würde unsere Gesellschaft im Gestus der Legitimität greifen, wenn wirklich einmal die ganz große Migration der Benachteiligten begänne?

Die Gewalt, die bereits heute aus unserer Mitte hervorgeht, löst wenig Erschrecken aus. Hunderte Angriffe auf Asylunterkünfte, im zurückliegenden Jahr mehr als tausend: Sie verschwinden in einem seltsamen Aufmerksamkeitsschatten, als fehlte ihnen alle Farbe. Ganz anders die spektakulären Taten Einzelner, die nichts mit uns zu tun haben, denn die Täter sind Migranten, Terroristen, Religiöse – oder, wenn sie uns gefährlich ähnlich sind, zumindest Kranke. Irgendwie sind es immer die anderen.

Wir schieben die Gewalt weg von uns. Wir, die zivilisierten Menschen des zivilisierten Europa, wir schätzen und respektieren das Leben. Wir haben unseren Spiegel blank gewischt, es gibt darauf keine dunklen Flecken und keine Vergangenheit.

"Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen, auf eine Lawine von Morden", schrieb Frantz Fanon 1966. Ich betrachte terroristische Anschläge nicht als antikoloniales Zurückschlagen. Aber manchmal denke ich: Wir bekommen die Gewalt, mit der wir die Welt jahrhundertelang überzogen haben, heute in kleinen Paketen zurück.

Der Schriftzug "Kein Asylant in Vorra" steht am 12.12.2014 in Vorra (Landkreis Nürnberger Land) an einer Hauswand. In drei als Flüchtlingsunterkunft vorgesehenen Gebäuden hatte es in der Nacht zu Freitag gebrannt; Foto: picture-alliance/dpa/ToMa
"Die Gewalt, die bereits heute aus unserer Mitte hervorgeht, löst wenig Erschrecken aus. Hunderte Angriffe auf Asylunterkünfte, im zurückliegenden Jahr mehr als tausend: Sie verschwinden in einem seltsamen Aufmerksamkeitsschatten", schreibt Charlotte Wiedemann.

Grundgefühl der Machtlosigkeit

Die weiße Mehrheitsgesellschaft, die lange von einer Gewalt profitierte, die sie auf anderen Kontinenten exekutierte, lernt nun das Gruseln. Dies sei "ein blutiger Sommer", schrieb der "Spiegel". Was gäbe man in Aleppo um einen solchen Sommer. Was gäbe man in vielen Ländern der Welt um einen solchen Sommer. Wir bekommen in diesen Tagen vielleicht eine Idee, was Bedrohung und Machtlosigkeit bedeuten – ein Grundgefühl, mit dem Millionen Menschen außerhalb Europas Tag für Tag leben.

Wir haben uns abgewöhnt, die strukturelle Gewalt als solche anzuerkennen, die brutale Gewalt der Armut, die eine malische Frau dazu verurteilt, bei einer geringfügigen Komplikation der Geburt zu sterben. Wenn wir von "blinder Gewalt" sprechen, meinen wir, dass ein Täter um sich schlägt und willkürlich einige Unschuldige zu Opfern macht. Die Malierin, die im 21. Jahrhundert im Kindbett stirbt, wird von der blinden Macht ungerechter Verhältnisse getroffen, deren Gewalttätigkeit wir nicht mehr beim Namen nennen mögen.

Systemkritisches Denken ist aber nicht möglich ohne eine politische Auffassung davon, was Gewalt ist – und was sie gebiert. 15 Jahre nach 9/11 finden sich kaum noch Maßstäbe für Gewalt, die man als widerständig bezeichnen könnte.

Gelegentlich kriecht die Gewalt aus unserer Vergangenheit ans Licht. Herero/Nama, ein kleiner Völkermord. Oder jetzt Ermittlungen gegen einige betagte Diensthabende aus dem KZ Stutthof nahe Danzig. Dort trafen zwischen Ende Juni und Mitte Oktober 1944 26 Deportationszüge ein; sämtliche Insassen, meist Juden, wurden zügig durch Genickschuss oder Gas getötet. Ein Blutrausch, an den nichts, was in unseren Tagen geschieht, heranreicht.

Vielleicht denken wir einmal an den Sommer von Stutthof, wenn ein afghanischer Junge eine Axt erhebt oder ein Amokfahrer über eine Promenade von Nizza rast.

Charlotte Wiedemann

© Qantara.de 2016