„Wir dürfen das Feld nicht allein al-Jolani überlassen“
Nasser Alzayed kann es noch nicht fassen, dass Baschar al-Assad 13 Jahre nach Beginn der Revolution gestürzt wurde. „Ich habe in der Nacht nicht geschlafen. Da waren gemischte Gefühle: Freude, Schmerz und Enttäuschung.“ Vergangenen Sonntag nahmen Hunderte von Syrer*innen an Demonstrationen in Berlin und anderen deutschen Städten teil, um den Sturz des Assad-Regimes zu feiern. Auch Alzayed fuhr von Hamburg nach Berlin, um mit seinen Freund*innen zu feiern und diesen historischen Moment mit seiner Kamera festzuhalten.
„Das kam alles so plötzlich und unerwartet“, sagt Alzayed. Unter der Führung von Hayat Tahrir al-Scham (HTS) und ihren von der Türkei unterstützten Verbündeten nahmen oppositionelle Gruppen in einem koordinierten Angriff zunächst die Stadt Aleppo und dann weitere Städte ein, während sich die syrische Armee aus einer Stadt nach der anderen zurückzog. Zuletzt floh Assad aus der Hauptstadt Damaskus nach Moskau. Seine Flucht markiert das Ende der mehr als fünf Jahrzehnte andauernden Herrschaft seiner Familie.
Seit er 19 Jahre als ist, dokumentiert Alzayed mit seiner Kamera die Revolution. Ende 2013 musste er wegen einer Verletzung aufhören, für die Syrian Revolution Coordinators Union in den Provinzen Daraa und Quneitra als Fotograf zu arbeiten. Damals wurde er von einer Granate am Kopf getroffen, die bei einem Gefecht zwischen der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) und den Regierungstruppen neben ihm explodierte, während er für die oppositionelle Syrian Media Organisation (SMO) die Ereignisse dokumentierte.
In der Folge half die Organisation Reporter ohne Grenzen ihm, nach Europa zu kommen, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Mehrfach musste er am Ohr operiert werden. Bis heute hat er Schwierigkeiten zu hören und zu sprechen. Er ließ sich schließlich in Deutschland nieder, studierte an der Universität Stralsund Softwaretechnik und bekam die deutsche Staatsbürgerschaft.
Gleichzeitig leitete Alzayed eine zivilgesellschaftliche Organisation, die Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft in Hamburg, um vertriebene Familien in den Oppositionsgebieten zu unterstützen. In den vergangenen Jahren hat er auch in Deutschland Demonstrationen gegen die Assad-Regierung dokumentiert. „Wie die meisten Syrer*innen war ich gezwungen, das Land zu verlassen“, sagt er.
„Ich bin kein Flüchtling mehr“
„Wir Syrer*innen haben alle den gleichen Schmerz durch dieses Regime erlitten, deshalb vereint uns sein Sturz“, sagt Sidan Seyda, 33, während sie mit ihrer Schwester und Freund*innen in der Berliner Innenstadt feiert. „Statuen des Diktators Baschar und seines Vaters Hafez wurden in allen kurdischen und arabischen Städten gleichermaßen zerschlagen“, sagt Seyda, die kurdische Syrerin ist. „Wir haben nicht einmal im Traum damit gerechnet, diesen Tag zu erleben. Es war wie eine neue syrische Revolution, die nur elf Tage dauerte, nach 13 Jahren der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.“
Seyda ist 2013 aus Damaskus geflohen, um ihrer Familie in die Türkei zu folgen. „Damals haben wir geglaubt, dass die Revolution siegen wird und wir bald nach Syrien zurückkehren können. Aber leider vergingen Tage, Monate und Jahre. Also sind wir nach Europa gekommen.“ Jetzt, da das Regime gestürzt ist, sagt Seyda: „Das Erste, was ich gedacht habe, war, dass ich Syrien besuchen und in Zukunft vielleicht auch dorthin zurückkehren will.“
Yamen Molhem plant bereits konkret seine Rückkehr nach Aleppo: „Ich bin jetzt kein Flüchtling mehr. Die Zeit ist gekommen, ins Heimatland zurückzukehren.“ Molhem ist 2011 aus Syrien geflohen. Er lebte zwischen dem Libanon, Ägypten und der Türkei und ließ sich 2016 in Deutschland nieder. Seitdem hat sich Molham in Deutschland integriert und ist heute Besitzer eines beliebten Schawarma-Restaurants in der Sonnenallee in Berlin. „Deutschland hat uns nicht im Stich gelassen und sein Herz für uns geöffnet.“ Er ist dankbar dafür, wie Deutschland ihn willkommen geheißen hat.
Rund eine Millionen Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft leben in Deutschland. Der Großteil von ihnen ist 2015 gekommen, als Ex-Kanzlerin Angela Merkel entschied, Geflüchtete nach Deutschland einreisen zu lassen. Seitdem haben sich die meisten in die deutsche Gesellschaft integriert, viele haben die Staatsbürgerschaft bekommen, allein im letzten Jahr 75.000. Damit bilden sie laut Bundesamt für Statistik die größte Gruppe an Personen aus einem Land, die 2023 eingebürgert wurde.
Besonders diejenigen mit einem konservativen Hintergrund, die ihre Kinder nicht in der westlichen Kultur aufziehen möchten, denken nun darüber nach, nach Syrien zurückzukehren. Tatsächlich sind in den letzten Tagen bereits hunderte von Syrer*innen aus Syriens Nachbarländern wie Jordanien, dem Libanon und der Türkei nach Syrien zurückgegangen.
Die Stunde Null in Syrien
Nach mehr als einem halben Jahrhundert stürzt das Regime der Assads. In die Freude über das Ende einer der brutalsten Diktaturen unserer Zeit mischt sich Sorge um die Zukunft des Landes. Wer sind die neuen Machthaber? Und gibt es in Syrien überhaupt noch „Gute“?
Optimismus – aber mit gewissen Vorbehalten
Trotz positiver Anzeichen, wie sich Syrien nach Assad entwickeln könnte, machen sich viele Syrer*innen auch Sorgen. Besorgniserregend, besonders für Minderheiten, ist der rasante Aufstieg des Anführers von Hayat Tahrir Al-Sham, Ahmad al-Sharaa, bekannt unter dem Namen Abu Muhammad al-Jolani. Zwar verpflichtete sich al-Sharaa während der Kämpfe gegen die Regierungstruppen, den ethnischen und religiösen Minderheiten keinen Schaden zuzufügen. Doch früher war er Al-Qaida-Kämpfer im Irak und gründete 2016 den HTS-Vorgänger Al-Nusra-Front, die im Anschluss weiter mit Al-Qaida in Verbindung stand.
Die Oppositionsgruppen unter seiner Führung haben angekündigt, eine Übergangsregierung zu bilden, deren Vorsitz Muhammad al-Bashir, ebenfalls Mitglied von HTS, innehaben wird. Al-Bashir leitete die Zivilbehörde in Idlib in Abstimmung mit HTS, die die Sicherheits- und Militärangelegenheiten kontrollierte.
Seyda, die syrische Kurdin, wirkt optimistischer: „Ich bin zuversichtlich, dass sie die Minderheiten respektieren und schützen werden. Sie haben wie wir alle unter dem Regime gelitten. Der Wandel und die Hoffnung werden sie motivieren. Wir alle teilen den Schmerz und unsere Träume.“
Dennoch macht sich auch Seyda Sorgen wegen der Türkei, die aggressiv gegen die Kurd*innen vorgeht und sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit sieht. „Ich habe Angst vor den türkischen Plänen und ihrem Ziel, syrische Städte zu besetzen, die mehrheitlich von Kurd*innen bewohnt sind, wie es in Afrin passiert ist.“ 2018 hatte das türkische Militär gemeinsam mit verbündeten syrischen Gruppierungen eine Militäroffensive auf die mehrheitlich kurdische Staat in Nordsyrien gestartet. Dabei wurden Dutzende Zivilist*innen getötet; tausende Kurd*innen mussten fliehen.
Der Westen zeigt sich offen für al-Jolani
Laut Alzayed sei eine besorgniserregende und unerwartete Entwicklung nach dem Sturz des Assad-Regimes die Offenheit der westlichen Länder, mit HTS und ihrem Anführer Ahmad al-Sharaa zu verhandeln, ähnlich wie mit den Taliban in Afghanistan, wobei al-Jolani gemäßigter zu sein scheint als diese.
Alzayed, der selbst Teil der Syrian National Democratic Alliance ist, einem Bündnis syrischer Oppositioneller in Europa, fügt hinzu: „Wir haben Angst vor al-Jolani. Seine Standpunkte unterschieden sich von unseren Forderungen zu Beginn der Revolution, bevor er seine politische Rhetorik jüngst anpasste, um besser mit den Zielen der Revolution vereinbar zu sein. Sollten die bewaffneten Gruppen jedoch tatsächlich ihre Versprechen halten, können wir ein neues Syrien aufbauen, das alle Menschen aufnimmt.“
Dazu müssten sich die oppositionellen Kräfte, die überall auf der Welt verteilt sind, zusammenschließen und nach Syrien zurückkehren: „Wir dürfen das Feld nicht allein al-Jolani und seinen Anhängern überlassen.“
Aus dem Arabischen übersetzt von Alicia Kleer.
© Qantara.de