Dialog und Versöhnung durch Kenntnis
Annemarie Schimmel wuchs im Zeichen des aufkommenden Nationalsozialismus auf, in einer Epoche der Verachtung des Anderen und der Vergötzung des Eigenen. Zu dieser Zeit, in der "deutschen Wesens" zu sein und der "arischen Rasse" anzugehören zum höchsten Wert wurde, nahm sie schon als Schülerin Privatunterricht im Arabischen und ließ sich in den Bann dieser semitischen Sprache ziehen.
Gleichaltrige träumten von deutscher Fahne, deutschem Blut und deutschem Führer – Annemarie Schimmel wandte sich der Gegenwelt einer damals noch weit entfernt scheinenden Kultur und Religion zu: dem Islam.
Diese Hinwendung war gleichzeitig eine Flucht vor der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Die sprachlich und literarisch hoch begabte junge Frau machte nach dem Krieg eine beispiellos rasante akademische Karriere. 1946 führte sie das Habilitationsverfahren für Islamwissenschaft in Marburg in der Trümmerlandschaft, zu der Deutschland geworden war, zu Ende. Sie war gerade 23 Jahre alt.
Sie sucht und findet nach dem Krieg die Nähe zu Muslimen und zum Islam und zwar zunächst in der zu dieser Zeit noch ganz kemalistischen Türkei. 1954 wird sie Professorin für Religionsgeschichte an der Universität Ankara und lehrt dort auf Türkisch "Geschichte und Phänomenologie aller Religionen mit Ausnahme des Islams". Bald spricht sie Türkisch wie ihre Muttersprache.
Kultureller Hochverrat
In Ankara heiratet sie einen türkischen Ingenieur – die Ehe wird nach kurzer Zeit geschieden. Aus dieser Verbindung hat sie ihr Leben lang ein Geheimnis gemacht. Und man hat ihr vielleicht aus diesem Grund ebenso prompt wie fälschlich nachgesagt, sie sei in dieser Zeit zum Islam konvertiert – nach dem Comment der damaligen deutschen Islamwissenschaft kultureller Hochverrat an den heiligsten Gütern des Abendlandes.
Annemarie Schimmel fühlte sich ihr ganzes Leben mit der islamischen Religion und ihren Kulturen verbunden. Sie wurde öfters von muslimischer wie von nicht-muslimischer Seite gefragt, ob sie Muslimin sei oder nicht. Dann pflegte sie auszuweichen und etwa zu antworten, ein guter Muslim sei nur der, der nicht sicher sei, ob er einer sei. Sie liebte "den Islam" – aber nur so lange sie ihm nicht angehören musste. Vielleicht war die Anstrengung dieses Balance-Aktes eine der Triebfedern ihrer fast unglaublichen Produktivität.
Ihre Stärke war die auf philologische Quellenkenntnis gestützte Vermittlung schwierigster mystischer und poetischer Texte aus dem Arabischen, Persischen, Türkischen, Urdu, Paschto und Sindhi ins Deutsche und ins Englische. Erschlossen ihre Analysen der kreativen Bilderwelten islamischer Mystik und Poesie dem Fachwissenschaftler wie dem Laien nicht selten neue Dimensionen, so gab sie ihren Übersetzungen aus den islamischen Sprachen eine Form, die das Interesse, ja teilweise das Entzücken des gebildeten europäischen und amerikanischen Publikums fand.
Vorbild Friedrich Rückert
Es gelang ihr, den ästhetischen und intellektuellen Rang solcher Schriften nachschaffend zu vermitteln, ohne das Original zu verraten. Sie hat in diesem Punkt bewusst ihrem Vorbild Friedrich Rückert nachgeeifert, dessen geniale Nachschöpfung großer Teile des Korans und dessen Nachdichtungen arabischer und persischer Poesie sie bewunderte.
Das Konzept einer Weltliteratur unter dem Motto "Weltpoesie allein ist Weltversöhnung" war ihr auf den Leib geschrieben. Ihre Liebe zu ihrem Gegenstand faszinierte viele und stieß andere ab. Der Schatten dieser Liebe war der Vorwurf der Schwärmerei, der ihr nicht selten gemacht wurde. "Ich kann nicht über etwas arbeiten, was ich nicht liebe" hat sie mehr als einmal gesagt – und damit den oft hämischen Spott der Zunft auf sich gezogen.
Annemarie Schimmel las die islamische Mystik, "das innere Leben des Islams" wie sie es formulierte, über weite Strecken subversiv. Die islamische Orthodoxie der Rechtsgelehrten und ihrer Schulen interessierte sie nicht. Für sie war der Kern des Islams gerade nicht die Scharia, das vielgestaltige, detailbesessene islamische Recht, erst recht nicht die menschenfeindliche Theorie und Praxis vieler moderner Islamisten.
Dafür rückte sie immer wieder das unnachahmlich Individuelle des Mystikers ins Zentrum ihres Interesses. Der islamische Mystiker und die islamische Mystikerin – der weiblichen Seite der islamischen Spiritualität ging sie mit besonderem Gespür nach – schlagen den Weg nach innen ein, und manches von dem, was viel spätere europäische Texte als individuelle Freiheit der Person zusprechen, ahnen die Texte der islamischen Mystik voraus: als pantheistische Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen, als gesellschaftlich sperriges, der politischen Religion nicht verfügbares Beharren auf einem individuellen, unvermittelten Zugang zur Wahrheit, als stammelndes Hindeuten auf das nicht mehr Sagbare.
Annemarie Schimmel hat dies immer wieder mit einer Mischung aus tiefer Vertrautheit einerseits und ebenso tiefem Respekt vor jeder individuellen Religiosität andererseits neu abgehandelt. Wo sie den Konflikt zwischen Orthodoxie und Ketzer, zwischen Gesetzesislam und mystischem Islam darstellte, war sie meist auf der Seite der Ketzer.
Die Krise
Als Annemarie Schimmel in der Frankfurter Paulskirche am 15. Oktober 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennimmt, ist sie am Ende ihrer Kräfte. Während der monatelangen öffentlichen Diskussion um ihre halbherzigen und missverständlichen Äußerungen zu Salman Rushdies Buch The Satanic Verses und um das Echo darauf in der islamischen Welt glaubte sich Annemarie Schimmel mit dem Zusammenbruch ihres Lebenswerks konfrontiert.
Die Worte, die der damalige Bundespräsidenten Roman Herzog in seiner Laudatio für sie fand, taten ihr gut, aber bis zu ihrem Lebensende mied sie die öffentliche Diskussion dieses Themas.
Es ging Annemarie Schimmel nicht darum, ein verklärtes Bild vom wahren Zustand der meisten Regime zu geben, unter denen Muslime heute leben müssen. Dass Salman Rushdie vor Fanatikern geschützt werden musste, und dass das als Fatwa des Imam Khomeini eingekleidete Todesurteil nicht nur eine grässliche Travestie von Gerechtigkeit war, sondern darüber hinaus das Bild des Islams in der nicht-muslimischen Öffentlichkeit schwer belastete, wurde auch von Annemarie Schimmel nicht bestritten. Dennoch scheute sie ihr Leben lang deutliche Kritik am "real existierenden politischen Islam". Sie beharrte darauf, sich nur mit den Idealen dieser Religion befassen zu dürfen.
Es entsprach dem Wunsch Annemarie Schimmels, dass an ihrem Sarg die erste Sure des Koran rezitiert werde – als über ihren Tod hinausgehendes Zeichen der Versöhnung zwischen den Religionen. Sheikh Ahmed Zaki Yamani, ein langjähriger Vertrauter Annemarie Schimmels, und Vorsitzender der in London beheimateten Al-Furqan-Stiftung, in der auch sie beratend tätig war, rezitierte zum Schluss des evangelischen Gottesdienstes in der Bonner Kreuzkirche am 4. Februar 2003 die Fatiha.
Hoch und vielfach geehrt verkörperte Annemarie Schimmel eine Islamwissenschaft, wie sie heute kaum noch jemand zu betreiben wagen wird. Ihr Tod wurde im Osten gewiss tiefer und länger betrauert als im Westen. Mit ihr starb eine Frau, die auf besondere Art zwischen den Religionen und Kulturen stand: eine Vermittlerin mit der islamischen Welt, eine Brückenbauerin zwischen West und Ost. Gegen Vorurteil und Hass setzte sie Dialog und Versöhnung durch Kenntnis. Dass es heute an der Universität Bonn ein Annemarie-Schimmel-Haus und ein Annemarie-Schimmel-Stipendium gibt, hätte ihr gefallen.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie hilft oft, Dinge klarer zu sehen. Annemarie Schimmels Verdienste wurden oft gerühmt, ihre unleugbaren Schwächen ebenso oft gegeißelt.
Viele jedoch, ob gelehrt oder nicht, vermissen schmerzlich ihre unnachahmliche, bei aller Kompetenz unaufdringliche Art, beim breiteren europäischen Publikum Verständnis für die Muslime und die muslimischen Hochkulturen zu wecken. Auch ich gehöre zu ihnen.
Stefan Wild
© Qantara.de 2013
Dr. Stefan Wild lehrte als Professor für Semitische Philologie und Islamwissenschaft an der Universität Bonn, wo er 2002 emeritiert wurde. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Die Welt des Islams", einer internationalen Zeitschrift für die Geschichte des Islam in der Neuzeit.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de