Frauenrechte im Wandel der Zeit

Frauen stehen Schlange für eine Geldspende beim Welternährungsprogramm (WFP) in Kabul, Afghanistan, 20. November 2021
Frauen stehen Schlange für eine Geldspende beim Welternährungsprogramm (WFP) in Kabul, Afghanistan, 20. November 2021

Seit mehr als einem Jahrhundert streiten Afghanistans Machthaber und ethnische Gruppen über die Rechte der Frauen in ihrem Land. Die Betroffenen selbst wurden nie gefragt. Von Manasi Gopalakrishnan

Von Manasi Gopalakrishnan

"Ich habe für Afghanistans Verteidigungsministerium gearbeitet. Ich weiß, welchem großen Risiko diese Frauen ausgesetzt sind. Viele haben verzweifelt ein Versteck gesucht, sie haben Todesangst erlitten", sagt Zarifa Ghafari, die Bürgermeisterin von Maidan Shahr in der Provinz Wardak war, bevor sie zum Verteidigungsministerium kam. Nur wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Taliban im September 2021 ist es ihr gelungen, mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland zu fliehen. Alle ihre Kolleginnen im Verteidigungsministerium haben inzwischen aufgehört zu arbeiten, erzählt sie.

Kürzlich hörte Ghafari, wie Freunde über drei Kinder sprachen, die von ihrer Mutter auf der Straße ausgesetzt worden waren, weil sie nicht mehr in der Lage war, sich um sie zu kümmern. "Warum sollte jemand so etwas tun?", fragt sie rhetorisch und erklärt, dass viele Frauen einfach keine andere Wahl hätten. Alleinerziehende Mütter sind besonders vom Arbeitsverbot der Taliban für Frauen betroffen.

Das Regime hat Frauen auch verboten, ihr Gesicht in den Medien zu zeigen, Schulen wurden für Mädchen geschlossen, und Frauen dürfen sich ohne männliche Begleitung nicht mehr außerhalb ihres Hauses bewegen.

Frühe Feministinnen in Afghanistan

 

Dabei waren die Rechte der Frauen den Machthabern in Afghanistan des frühen 20. Jahrhunderts ein wichtiges Anliegen, schreibt Huma Ahmed-Ghosh, Professorin am Department of Women's Studies der Universität von San Diego, in ihrer 2003 erschienenen Studie "A History of Women in Afghanistan: Lessons learnt for the Future". Frauenrechte erhielten einen Schub, nachdem Amanullah Khan nach der Ermordung seines Vaters Habibullah im Jahr 1919 den Thron bestieg. Im selben Jahr besiegte er die Briten im Dritten Anglo-Afghanischen Krieg.

Der afghanische König Amanullah Khan, 1892-1960 (Foto: gemeinfrei)
Den Kampf gegen die Stammestraditionen verloren: König Amanullah Khan ließ sich von der Modernisierung in der Türkei unter Kemal Atatürk inspirieren und läutete Veränderungen für Frauen ein. Er propagierte Monogamie, Bildung für Mädchen und Frauen und die Abschaffung der Burka. Seine Frau, Königin Soraya, verzichtete auf die Vollverschleierung und trug stattdessen einen breitkrempigen Hut mit einem durchsichtigen Schleier. Die meisten Gesetzesänderungen Amanullahs stießen jedoch auf den heftigen Widerstand von Stammesführern, so dass er gezwungen war, viele seiner Gesetze wieder zurückzunehmen, darunter die Anhebung des Heiratsalters für Frauen von 18 auf 21 Jahre und die Abschaffung der Polygamie. Nach erheblichem Druck seitens der Stammesführer war Amanullah schließlich gezwungen, abzudanken und nach Europa zu fliehen.

Amanullah ließ sich von der Modernisierung in der Türkei unter Kemal Atatürk inspirieren und läutete Veränderungen ein, er trat für Monogamie, Bildung für Mädchen und Frauen und die Abschaffung der Ganzkörper-Burka ein. Seine Frau, Königin Soraya, verzichtete auf die Vollverschleierung und trug stattdessen einen breitkrempigen Hut mit einem durchsichtigen Schleier. Amanullah und Soraya reisten nach Europa und führten in Afghanistan neue Gesetze ein, die ihrer Meinung nach den Frauen zugute kommen würden.

Die meisten Gesetzesänderungen Amanullahs stießen jedoch auf den heftigen Widerstand von Stammesführern, so dass er gezwungen war, viele seiner Gesetze zurückzunehmen, darunter die Anhebung des Heiratsalters für Frauen von 18 auf 21 Jahre und die Abschaffung der Polygamie. Nach erheblichem Druck seitens der Stammesführer war Amanullah schließlich gezwungen, abzudanken und nach Europa zu fliehen.

Nach dem Sturz der Monarchie und mit zunehmender Entwicklungshilfe durch die UdSSR waren Frauen in der Arbeitswelt gefragt und wählten medizinische und pädagogische Berufe. In den 1970er Jahren wurden weitere Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Mädchen ergriffen, darunter die Anhebung des Heiratsalters für Frauen und die Einführung der Schulpflicht.

Doch auch dies führte zu einer massiven Gegenreaktion seitens religiöser Stammesgruppen. Mit dem Aufstieg der Mudschaheddin und später der Taliban setzten sich  traditionelle  islamische Regeln wieder durch, so dass Frauen wieder auf ihre Häuser beschränkt wurden. Frauen aus konservativen Gemeinschaften empfanden zudem westliche, moderne Einflüsse als "korrupt", schreibt Ahmed-Ghosh in ihrer Untersuchung.

Afghanistans Frauen werden auf das Haus beschränkt

 

Auch heute noch sei Afghanistan eine patriarchale Gesellschaft, vor allem in ländlichen Gebieten, sagt Ökonomin Britta Rude, die sich mit Ungleichheit in Afghanistan beschäftigt und am ifo Zentrum für internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung in München forscht.

"Konservative Afghanen halten es für nicht angemessen Frauen, dass Frauen außerhalb des Hauses arbeiten,", fügt Rude hinzu. "Es gibt eine sehr traditionelle Arbeitsteilung. Frauen erledigen die ganze Arbeit im Haushalt, während Männer außer Haus arbeiten. Frauen kümmern sich außerdem um Kinder und ältere Menschen."

Letztes Jahr hat der afghanische Historiker Bahar Jalalo eine Twitter-Kampagne mit dem Hashtag #DoNotTouchMyClothes gegen die Taliban gestartet; Foto: Dr. Bahar Jalali/Reuters
Die Schönheit afghanischer Kultur: Traditionelle afghanische Frauengewänder sind bunt und fröhlich. Ganz anders die Burka, unter die die Taliban die Frauen wieder zwingen. Letztes Jahr hat der afghanische Historiker Bahar Jalalo eine Twitter-Kampagne mit dem Hashtag #DoNotTouchMyClothes gegen die Taliban gestartet. Die Kampagne war ein Aufschrei gegen die monotone Burka, die erneut das Gesicht der Straßen Afghanistans prägt, nachdem die Frauen des Landes wieder einmal in ihrem Kampf um Selbstbestimmung zurückgeworfen wurden.

Diese Rollenverteilung wird von den afghanischen Männern immer noch weitgehend akzeptiert und sogar bevorzugt. Nur 15 Prozent der afghanischen Männer sind der Meinung, dass es Frauen erlaubt sein sollte, nach der Heirat zu arbeiten, und Zweidrittel klagen, dass afghanische Frauen "zu viele Rechte" hätten, so eine von UN Women und Promundo durchgeführte Studie aus dem Jahr 2019, die von der Agentur Reuters zusammengefasst wurde. (Anm. der Red.: Da die Identität der afghanischen Frauen derzeit geschützt werden muss, wurde die Originalstudie auf Wunsch von UN Women vorübergehend aus dem Internet entfernt.)

Darüber hinaus habe auch die Idee der "Ehre" Auswirkungen auf afghanische Frauen, erklärt Rude und ergänzt, dass das Gemeinschaftsgefühl von größter Bedeutung sei. "Wenn eine Frau zum Beispiel etwas tut, das nicht mit den Werten und Normen dieser Gemeinschaft übereinstimmt, kann das den Ruf der gesamten Familie schädigen. Deshalb achten sie so sehr auf das Verhalten der Frauen und versuchen, sie einzuschränken", erklärt Rude.

"Die Normen und Werte werden von den Männern vorgegeben, und die Frauen sollen die Regeln befolgen. Sobald eine Frau davon abweicht, kann das die Ehre der Familie beeinträchtigen. Aus diesem Grund gibt es immer noch Ehrenmorde in Afghanistan", sagt sie.

Einzelne Ethnien und Clans hätten zudem oft auch ihre eigenen formellen "Bestimmungen" zu vermeintlichen Verbrechen und Vergehen. "Sie setzen die Gesetze der Regierung - wie die gegen Ehrenmorde - außer Kraft und verhängen ihre eigenen Strafen", so Rude.

Keine Hoffnung für die nahe Zukunft

 

Für Zarifa Ghafari, die ehemalige Bürgermeisterin, stehen die frauenfeindlichen Stammesgesetze und die aktuellen Entwicklungen unter den Taliban im krassen Gegensatz zu ihrer Vorstellung von der afghanischen Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. "Die afghanische Kultur war vor den Jahren des Krieges wunderschön", sagt sie, es seien gute Zeiten für Frauen gewesen. Ghafari erzählt von ihrer Großmutter, die heute fast 100 Jahre alt wäre und die ihr oft Geschichten aus ihrer Jugendzeit erzählte, als Frauen zur Universität gehen und alle Kleider tragen durften, die sie wollten.

"Afghanische Kultur, das ist die Kultur von Malala Maiwandi, die Kultur von Rabia Balkhi", sagt Ghafari. Maiwandi war eine Journalistin, die 2020 in Jalalabad von Bewaffneten getötet wurde; Balkhi war eine Dichterin aus dem 10. Jahrhundert, die sich umbrachte, nachdem sie von ihrem Sklavenliebhaber getrennt worden war, den sie nicht heiraten durfte. "Das ist meine Kultur", betont Ghafari.

In der islamischen Kultur gehe es, im Gegensatz zu den strengen Anweisungen der Taliban, beim Tragen des Hidschab darum, sich wohlzufühlen, erklärt sie. Die Nachrichtenagentur AFP berichtete Anfang Januar, dass die Religionspolizei der Taliban in ganz Kabul Plakate aufgehängt hat, auf denen Frauen aufgefordert werden, sich zu verschleiern. Obwohl die Plakate auf die Pflicht zum Tragen des Hidschab hinweisen, zeigen sie das Foto einer das Gesicht verschleiernden Burka, was als weiteres Zeichen für die schleichenden Einschränkungen gewertet wird.

Gegenwärtig besteht wenig Hoffnung, dass sich die Lage bessert, da die Taliban ihre ursprünglichen Versprechen in Bezug auf die Rechte der Frauen nicht eingelöst haben. Ghafari sieht den einzigen Ausweg darin, die internationale Gemeinschaft von der Dringlichkeit der Situation zu überzeugen und die Taliban unter diplomatischen Druck zu setzen, damit sie ihre Versprechen einhalten.



Manasi Gopalakrishnan

© Deutsche Welle 2022

Adaption aus dem Englischen von Paula Rösler