Nährboden für AfD-Parolen
Die Gewalt der Kölner Silvesternacht beschäftigt das Land noch immer. Wie konnte es sein, dass mitten in einer Millionenstadt Deutschlands Frauen auf dem zentralsten Platz in einer Weise belästigt wurden, die in ihrer Dimension völlig neu ist?
Für Alice Schwarzer ist der Fall klar: Der "Scharia-Islam" ist das Problem. Denn davon auszugehen, dass jeder beliebige "Araber", der zufällig auf dem Kölner Domplatz unterwegs war, sich an sexueller Gewalt beteiligt oder sie duldet, sei "rassistisch". Es gibt daher, so Schwarzer, nur eine "logische Erklärung" für die Gewalt: Bei den Männern müsse es sich um Islamisten gehandelt haben, um Anhänger des "Scharia-Islam".
Hochgradig spekulativ
Dieses Erklärungsmodell ist nicht nur hochgradig spekulativ. Es ist auch in sich widersprüchlich und bedient Ressentiments, die letztendlich doch wieder nur den anti-muslimischen Rassismus befeuern.
Der Koran, so eine These in dem von Alice Schwarzer jüngst herausgegebenen Sammelband "Der Schock – Die Silvesternacht von Köln", sei verhaltensbestimmend für Islamisten. Die Grundlage für ihre sexuelle Gewalt seien Koranverse, die ein frauenverachtendes Verhalten legitimieren. Der eklatante Widerspruch dieser Annahme besteht darin, dass die Täter sich nicht einmal an offensichtliche Gebote des Korans gehalten haben. Sie waren alkoholisiert, sie haben fremde Frauen berührt – beides wird im Koran für verboten erklärt und widerspricht also der "Scharia".
Ist der Koran nun verhaltensbestimmend oder nicht? Mit einer Willkürlichkeit wird der Islam dann als wirkmächtige, gefährliche Ideologie ausgemacht, wenn ein unerwünschtes Verhalten sichtbar wird (das der Koran im Übrigen verbietet) und dann als einflusslose Religion gezeichnet, wenn ein sozial vorteilhaftes Verhalten angemahnt wird.
Köln-Täter brachen die Regeln der Scharia
Die streng religiösen Islamisten, deren "Scharia-Islam" die Ursache für die Exzesse von Köln ist, scheren sich nicht um die "Scharia", sind aber derart von der Scharia beeinflusst, dass sie deswegen frauenfeindlich agieren? Das ist eine gewagte These. Sie ist leider auch beliebt in Zeiten zunehmender Angst vor dem Islam.
Alice Schwarzer stützt sich auf Aspekte, die ihr Weltbild zu bestätigen scheinen und blendet Widersprüche aus. Das macht die Sache so gefährlich. Diese Form der selektiven Wahrnehmung erinnert an die Vorgehensweise muslimischer Extremisten. Die glauben auch, der Koran fördere eine frauenfeindliche Einstellung.
Schwarzer torpediert die Bemühungen all jener Muslime, die nicht müde werden, auf das Selbstverständliche hinzuweisen: Einzelne Verse müssen im textuellen und historischen Zusammenhang interpretiert werden. Sie dürfen nicht selektiv als Imperativ für egoistisch motiviertes Verhalten instrumentalisiert werden. Und genau darin liegt das größte Vergehen von Alice Schwarzer und ihren Mitautoren. Sie entlarven nicht, dass Islamisten versuchen, die Religion aus sozialpolitischen Gründen zu vereinnahmen. Mehr noch: Sie bestätigen deren pervertierte Lesart des Korans und identifizieren sie als Ursache für ein frauenfeindliches Verhalten, das 1,4 Milliarden Muslime weltweit betreffen müsste. So machen sie sich zu Komplizen der Extremisten.
Sozioökonomische Faktoren für sexuelle Gewalt
Statt theologisch zu argumentieren und Koranverse zu bemühen, wäre es zielführender gewesen, auf die sozialpsychologischen und sozioökonomischen Faktoren für sexuelle Gewalt hinzuweisen. Und tatsächlich betont Schwarzer eingangs: Bei dem Kölner Exzess habe es sich nicht um ein sexuell motiviertes Verbrechen gehandelt, sondern um eine Machtdemonstration. Doch wieder macht Schwarzer den Fehler, das Bedürfnis junger Männer nach Anerkennung und Bestätigung religiös zu interpretieren: Es sei der propagierte Kampf gegen die "Ungläubigen", der zu einem "Überlegenheitswahn" führe.
Die zentrale Frage lautet jedoch: Was war zuerst? Der Minderwertigkeitskomplex oder die islamistische Ideologie? Aus der Forschung ist bekannt, dass marginalisierte Jugendliche eine höhere Anfälligkeit für extrem körper- und gewaltbetonte Formen der Männlichkeit haben. Der Rückzug der jungen Männer auf den Körper ist dann die letzte Ressource, ihre Männlichkeit wiederherzustellen. Es geht also darum, sich über die Demütigung des weiblichen Opfers ein Gefühl von Herrschaft und Kontrolle zu verschaffen. Das soll Versagenserfahrungen ausgleichen, die mit Perspektiv- und Arbeitslosigkeit einhergehen.
Wasser auf die Mühlen der AfD
Anfällig für ein solches Verhaltensmuster sind Männer nicht aufgrund ihrer Religion oder Ethnie. Verstärkend wirkt sicherlich eine patriarchale Sozialisation. Alice Schwarzer benennt jedoch das Muslim-Sein als Hauptursache. Sie warnt vor einem "Kulturrelativismus" und einer Bagatellisierung des "Scharia-Islam", der ihrer Meinung nach erst zum Erstarken der AfD geführt habe. Sie verkennt dabei, dass auch ihre Argumentation letztlich den Nährboden für die islamfeindlichen Parolen einer AfD bereitet.
Statt gemeinsam mit Muslimen herauszuarbeiten, dass Radikale und Kriminelle eine Religion in Verruf bringen, problematisiert sie den Islam an sich. Statt gemeinsam mit Muslimen patriarchale Strukturen anzuprangern, die wahlweise im Namen der Kultur oder im Namen des Kapitalismus ein sexistisches Frauenbild zementieren, suggeriert sie, ein praktizierender Muslim sei per se frauenfeindlich. Damit trägt sie zu genau den Ausgrenzungserfahrungen bei, die junge Männer den Rattenfängern des politischen Islams in die Arme treiben.
Kein Kulturchauvinismus
Nein: Es muss nicht vor Kulturrelativismus gewarnt werden, sondern vor Kulturchauvinismus.
Wir verschließen die Augen vor den Elementen in unserer eigenen Kultur, die sexuelle Gewalt begünstigen. Wir reduzieren die Ursachen eines Missstandes auf problematische Faktoren der uns fremden Kultur, die wir für rückständig erklären. Zugleich wird erklärt, dass die alltägliche sexuelle Gewalt gegen Frauen in Deutschland nichts mit dem akzeptierten Alkoholkonsum und der sexualisierten Darstellung von Frauen in der Populärkultur zu tun habe oder sich zumindest nicht darauf reduzieren lasse.
Damit machen wir uns unglaubwürdig. Einerseits bekämpfen wir den patriarchalen Einfluss der "arabischen" Kultur, andererseits verharmlosen wir den Einfluss des Sexismus in unserer Kultur im Namen des Kapitalismus.
Immerhin: Letzteres hat Alice Schwarzer in der Vergangenheit nicht getan. Sie sollte sich darauf zurückbesinnen – gemeinsam auch mit konservativen Muslimen, die gerade in dieser Frage ausgesprochen große Übereinstimmungen mit dem Feminismus einer Alice Schwarzer aufweisen.
Khola Maryam Hübsch
© Qantara.de 2016
Khola Maryam Hübsch engagiert sich als Muslima in der Ahmadiyya-Gemeinschaft. 2014 erschien ihr Buch "Unter dem Schleier die Freiheit – Was der Islam zu einem wirklich emanzipierten Frauenbild beitragen kann" im Patmos-Verlag.