„Aleppo zeigt, wie schwach Assad ohne Verbündete ist“
Qantara: Hat Sie der Angriff der Oppositionsgruppen auf die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und die schnelle Einnahme Aleppos, der zweitgrößten Stadt Syriens, überrascht?
Elham Ahmed: Früher oder später musste es zu einer militärischen Eskalation kommen. Der widerstandslose Rückzug der syrischen Armee zeigt, wie verwundbar Baschar al-Assad ohne seine Verbündeten ist. Wir beobachten diese Entwicklungen und ihre Folgen für das Wohlergehen unserer ethnisch und religiös vielfältigen Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien genau. Die letzten Tage haben die Position der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien bestätigt: Die Syrienkrise kann nicht militärisch gelöst werden, sondern nur durch einen politischen Prozess.
Es gibt Berichte, dass Sie Verhandlungen mit Oppositionsgruppen in Erwägung ziehen, um kurdische Städte unter der Kontrolle der SDF zu halten, dem militärischen Arm der Selbstverwaltung.
Wir bekräftigen unsere Bereitschaft zum Dialog mit allen syrischen und regionalen Parteien, um in Syrien die Stabilität zu erhalten und die Zivilbevölkerung zu schützen. Wir haben keinerlei Interesse an einer weiteren Eskalation, da dies Auswirkungen auf die gesamte Region hätte. Der IS würde die Gelegenheit beim Schopf packen und versuchen, seine Angriffe zu verstärken.
Was ist in Anbetracht der Entwicklungen Ihre größte Sorge?
In erster Linie ist die pluralistische Identität Aleppos bedroht. Wenn Christen und Kurden in Aleppo nun in Angst leben müssen, würde dies die Spaltung Syriens vertiefen und das interethnische und interreligiöse Zusammenleben gefährden. In Nord- und Ostsyrien bereiten wir uns auf die Aufnahme von mindestens 120.000 Menschen aus Schahba vor, die von den Islamisten vertrieben worden sind. Unsere Lokalverwaltungen in Tabqa und Raqqa bauen bereits Notunterkünfte für die Vertriebenen. Die internationale Gemeinschaft muss schnell reagieren, um die erforderliche humanitäre Hilfe unbürokratisch zu leisten. Die Zivilbevölkerung darf nicht unter einem Machtkampf zwischen Regime und Islamisten leiden.
Syrische Oppositionsgruppen fordern weiterhin den Rücktritt Assads. Was ist Ihre Position?
Dies hängt ab von einem Wahlprozess und der Meinung des gesamten syrischen Volkes. Wir sind für eine Veränderung der Macht und der institutionellen Arbeit. Erst danach wird es auch einen Wandel in der Verwaltung geben. Uns geht es also nicht um diesen oder jenen Namen, aber wir sind definitiv für eine Veränderung des Regierungssystems in Syrien.
Eskaliert die Lage im Drusengebiet?
In Suwaida im Südwesten Syriens demonstrieren Bürger seit Monaten gegen schlechte Lebensbedingungen und das Regime von Baschar al-Assad. Eine wichtige Rolle spielt dabei die religiöse Minderheit der Drusen.
Seit der Gründung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien sind sechs Jahre vergangen. Was ist Ihr nächster Schritt?
Wir waren im Begriff, erneut Kommunalwahlen abzuhalten, aber die Lage in der Region ließ dies nicht zu, da der Beitritt neuer Gebiete zur Selbstverwaltung zu internationalen Reaktionen und zu Druck führte, insbesondere vonseiten der Türkei. Politisch setzen wir unter anderem den Dialog mit der Regierung in Damaskus und weiteren politischen Kräften in Syrien fort. Im Oktober haben wir in Brüssel eine Konferenz mit Vertretern von etwa dreißig Fraktionen, politischen Einheiten und unabhängigen Politikern mit demokratischer Ausrichtung abgehalten. Die Kommunikationskanäle sind also offen, auch mit Kräften, die sich gegen uns stellen.
Sie pochen auf Minderheitenrechte in Syrien. Was fordern Sie?
Die Anerkennung der ethnischen Fragen in Syrien, insbesondere der kurdischen Frage. Dabei geht es um die Anerkennung der kurdischen Sprache, unserer grundlegenden Rechte und deren Aufnahme in die syrische Verfassung, sowie eine Dezentralisierung des Landes, die die politischen und kulturellen Rechte anderer Bevölkerungsgruppen in Syrien berücksichtigt – natürlich nicht in Form einer ausschließlich kurdisch dominierten Region Kurdistan. Nord- und Ostsyrien ist ein etwas anderes Modell. Die Verwaltung ist partizipativ und nicht ausschließlich kurdisch. Wir sind der Meinung, dass Syrien in Regionen organisiert sein sollte, die nach ihrem kulturellen und geografischen Charakter definiert werden können, mit einer Zentralregierung. Syrien sollte wie der Irak oder die Vereinigten Arabischen Emirate föderal regiert werden.
Sie sehen die Region der Selbstverwaltung also als Modell für eine Lösung der gesamten Syrienkrise?
Die Struktur der Selbstverwaltung und der ihr unterstellten Städte ist dezentralisiert. Wenn diese Erfahrung entsprechend den Besonderheiten anderer Regionen verallgemeinert würde, könnte dies ein Schlüssel zur Lösung sein. Das Assad-Regime behauptet, eine Dezentralisierung würde zu einer Teilung führen. Aber wir sagen ihm: Unsere Erfahrung ist der Gegenbeweis. Die Regionen werden sich nicht voneinander und auch nicht von Syrien trennen.
Aber wird Assad einem solchen Szenario zustimmen?
Entscheidungen in Syrien werden derzeit am stärksten von außen beeinflusst, insbesondere von den Ländern, die sich in Syrien einmischen, sei es der Iran, die Türkei oder Russland. Die Lösung der Syrien-Frage erfordert daher sowohl einen internationalen Konsens als auch einen Konsens der syrischen Fraktionen. Dies ist weiterhin schwierig, aber wir geben die Hoffnung nicht auf.
Vor dem Angriff auf Aleppo gab es Anzeichen einer Annäherung zwischen Ankara und Damaskus. Dies war nach Ansicht von Analysten auf das gemeinsame Interesse der Türkei und Syriens zurückzuführen, ein von Kurden geführtes Autonomiegebiet zu verhindern. Wie stehen Sie dazu?
Für Damaskus hat der Rückzug der Türkei aus den besetzten Gebieten im Nordwesten des Landes Priorität, ebenso wie der syrischen Fraktionen, die unter türkischem Schutz stehen und eine Bedrohung für die Regierung in Damaskus darstellen. Für die Türkei wiederum hat die Zukunft von Nord- und Ostsyrien Priorität. Daher ist eine Übereinkunft zwischen den beiden Ländern kompliziert. Wir sind nicht zu Gesprächen eingeladen worden.
Sie waren vor einigen Wochen in Deutschland. Mit was für einem Pass sind Sie eigentlich eingereist?
Aus Sicherheitsgründen kann ich die Art des Reisens nicht erläutern, aber natürlich benutze ich einen syrischen Reisepass. Es ist aber schwierig, von Nord- und Ostsyrien aus ins Ausland zu reisen. Es gibt zwei Wege: Der erste führt über die Region Kurdistan im Irak, wobei der Grenzübergang (von Syrien in den Irak, d. Red.) für humanitäre Hilfe gedacht ist. Der zweite führt über den Flughafen Qamischli, von dem aus man Damaskus erreichen und etwa nach Beirut reisen kann.
Sie kamen nach Deutschland, weil zwei kurdische Vereine Strafanzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und andere türkische Amtsträger beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe erstattet haben. Sie werfen ihnen Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien vor. Was erwarten Sie von dieser Anzeige?
Möglicherweise wird nicht ermittelt werden, da diese Verstöße außerhalb der deutschen Staatsgrenzen stattgefunden haben. Aber politisch könnte die Anzeige Druck auf die Türkei ausüben, sodass sie ihre Angriffe auf Nord- und Ostsyrien einstellt. Die Türkei greift dort Zivilisten, Dienstleistungseinrichtungen, Infrastruktur und Krankenhäuser an, etwa das von Deutschland unterstützte medizinische Zentrum in Kobane.
Die Türkei sagt allerdings, diese Angriffe seien eine Reaktion auf einen Angriff in Ankara im Oktober.
Wir haben wiederholt betont, dass wir an keinen Operationen innerhalb der Türkei beteiligt sind. Die Türkei hat die Grenze überschritten, unser Territorium besetzt und die syrische Souveränität verletzt, also haben wir das Recht zu reagieren und unser Territorium zu verteidigen.
Wie stehen Sie zu der Debatte in Deutschland über Abschiebungen von afghanischen und syrischen Flüchtlingen, die Straftaten begangen haben?
Die deutsche Justiz hat bereits entschieden, dass Abschiebungen erlaubt sind. Wir haben gegenüber der deutschen Regierung unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit zum Ausdruck gebracht, wenn die Straftäter aus Nord- und Ostsyrien kommen. Dies wird aber nur in einem bestimmten Rahmen und unter bestimmten Bedingungen möglich sein.
Der Rechtsstaat und seine leichtfertigen Feinde
Wer in Sicherheitsfragen auf Assad oder die Taliban setzt statt auf den deutschen Rechtsstaat, versteht nicht, wie diese Regime ticken. Die Abschiebe-Debatte nach dem Terroranschlag von Solingen ist nicht nur offen rassistisch, sondern höhlt auch die Demokratie hierzulande aus.
Was für Bedingungen? Und über wie viele Abschiebungen wird verhandelt?
Nord- und Ostsyrien schien bis zur aktuellen Offensive stabiler zu sein als andere Regionen. Das war richtig. Aber die türkischen Angriffe beschädigen beispielsweise die Infrastruktur in der gesamten Region. Daher müssten diese gestoppt werden, die Infrastruktur wiederhergestellt und so Voraussetzungen für die Rückkehr von Abgeschobenen geschaffen werden. Insbesondere wenn sie vorbestraft sind und überwacht werden müssen. Derzeit gibt es keine konkrete Zahl von Abschiebungen, aber man hat sich auf die Rückkehr von Flüchtlingen geeinigt, die Straftaten begangen haben, nachdem sie ihre Haftstrafe in Deutschland verbüßt haben.
Wie sieht es mit der Rückkehr anderer syrischer Geflüchteter aus Deutschland aus?
Wir haben immer gesagt, dass wir in der Frage der Rückführung von Geflüchteten gesprächsbereit sind. Jetzt ist es an der Zeit, dass die deutsche Regierung einen Schritt auf uns zu geht.
In den Lagern al-Hol und Roj (in Nordostsyrien) sind immer noch viele deutsche IS-Anhänger inhaftiert. Warum sind sie noch nicht zurückgeführt worden?
Wir bedanken uns bei der Bundesregierung für die enge Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit. Aber leider beschränkt sich die Zusammenarbeit bisher auf die Rückführung von Frauen und Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit. Der nächste Schritt ist die Ausweitung der Zusammenarbeit auf männliche Gefangene mit deutscher Staatsangehörigkeit sowie die Klärung der Nationalität weiterer deutschsprachiger IS-Terroristen.
Was ist mit den verbliebenen Frauen und Kindern, die seit Jahren unter harten Bedingungen inhaftiert sind?
Mehr als 45.000 Familienmitglieder von IS-Anhängern leben in al-Hol und Roj. Etwa 10.000 gefährliche IS-Terroristen, darunter 2.500 aus Drittstaaten, werden in Gefängnissen festgehalten. Wir haben zudem zwei Rehabilitationszentren für Kinder: das Al-Huri-Zentrum, das seit 2017 Jungen aufnimmt, und Urkesch, das im vergangenen Jahr eröffnet wurde, mit etwa 250 Kindern vieler Nationalitäten, darunter auch Deutsche und Franzosen. Letztere Zahl ist sehr gering, gemessen an der großen Zahl von Kindern, die mit ihren Müttern in den Lagern leben und immer noch anfällig für radikale Ideologien sind. Es handelt sich also um eine tickende Zeitbombe.
Donald Trump, der nun ins Weiße Haus zurückkehrt, hatte beschlossen, einen Teil der US-Streitkräfte aus Syrien abzuziehen. Welche Optionen bleiben Ihnen, wenn er beschließt, auch die verbliebenen noch abzuziehen?
Wir gratulieren Präsident Trump zu seinem Wahlsieg und bekunden unsere Bereitschaft zu einer engen und intensiveren Zusammenarbeit. Unsere SDF-Streitkräfte haben sich in den letzten Jahren als zuverlässiger Partner erwiesen und wir wollen diese Partnerschaft weiter stärken. Ob die US-Streitkräfte abziehen oder bleiben, hängt von der Strategie und den Interessen der USA ab. Im Irak sehen wir aktuell, dass die irakische Regierung zwar auf einen Abzug der US-Streitkräfte drängt, dies jedoch angesichts der instabilen Lage und der iranischen Präsenz im Land nach wie vor sehr unwahrscheinlich ist. Auch der israelische Krieg in Gaza hat die Wahrscheinlichkeit einer fortgesetzten US-Truppenpräsenz in der Region erhöht.
Letzte Frage: Es ist immer wieder vom Traum eines kurdischen Staates die Rede. Ist ein solcher mit der Region Kurdistan im Irak und der Selbstverwaltung in Syrien denkbar?
Die Teilungen und Staatsgrenzen im Nahen Osten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen weiterhin. Wir unterstützen sie natürlich nicht, aber wir haben auch nicht die Macht, sie zu beseitigen. Wir bestehen darauf, dass alle Bevölkerungsgruppen in Syrien ihre national-kulturellen Rechte erhalten, insbesondere die Kurden. Was die Verwirklichung des Traums eines kurdischen Staats angeht, so wird die internationale Lage letztlich darüber entscheiden.
Dieser Text ist eine Übersetzung und leicht gekürzte Fassung des arabischen Originals auf Qantara.de.
© Qantara.de