Die Quadratur des Kreises
Die Rede ist von nicht weniger als dem heiligen Gral der US-Politik im Nahen Osten, vom großen Umbruch im arabisch-israelischen Konflikt: Saudi-Arabien, Wiege des Islams und wichtige Schutzmacht der Palästinenser, spricht mit den USA laut Medienberichten über eine Annäherung mit Israel. Was lange undenkbar
schien, ist plötzlich konkretes Thema unter Beratern im Weißen Haus.
Es ist ein komplexes diplomatisches Puzzle, an das Vertreter der
US-Regierung sich nach Informationen von «Wall Street Journal» (WSJ)
und «New York Times» (NYT) gesetzt haben. Der Weg zur Lösung wäre
lang und voller Hürden, viele Folgen noch gar nicht absehbar. Am Ende
könnte laut WSJ in rund einem Jahr aber eine Einigung stehen, die
strategische Interessen Saudi-Arabiens, Israels und der USA bedient -
und die vor allem gegen den Iran und China gerichtet wäre.
Es gebe noch «kein Verhandlungspaket» und «keinen vereinbarten
Rahmen» mit Blick auf eine mögliche Normalisierung, sagte John Kirby,
Sprecher des nationalen Sicherheitsrats der USA, am Mittwoch. Sollte
wohl heißen: Es laufen, wenn überhaupt, lediglich Vorgespräche.
Ranghohe US-Vertreter hätten bei Besuchen in Riad aber ausgelotet,
«was im Rahmen des Möglichen» sei.
Saudi-Arabien: Neue strategische Interessen
Das Prestige des Königreichs in der arabischen und muslimischen Welt
beruht auf seiner Rolle als Hüter der beiden heiligsten Stätten des
Islams, Mekka und Medina. Die drittheiligste ist der Tempelberg
(Al-Haram al-Scharif) in Jerusalem. Der Kampf für dessen Status und
eine gerechte Lösung der Palästinenserfrage ist eigentlich zentraler
Teil im Selbstverständnis Saudi-Arabiens als eine beherrschende Kraft
in der arabisch-muslimischen Welt. Saudi-Arabien hatte Israel schon
2002 den Frieden angeboten, unter anderem mit der Forderung, dass
Israel sich aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückzieht.
Aber dieser Konflikt rückt in den Hintergrund. Mohammed bin Salman,
faktischer Herrscher Saudi-Arabiens, zeigt heute deutlich weniger
Interesse am Status der Palästinenser als sein Vater, der inzwischen
recht greise König Salman (87). Für den Kronprinzen seien sie
«lästiges Hindernis für sein Verhältnis zu Israel», das er «so rasch
wie möglich beseitigen» wolle, schrieb Experte Guido Steinberg von
der Stiftung Wissenschaft und Politik vor einigen Jahren.
Eine viel größere Trophäe wären für den Prinzen Sicherheitsgarantien
der USA, die jetzt im Gespräch sein sollen, vergleichbar mit Zusagen
an die Nato-Partner oder an Südkorea 1953. Zudem, so die Berichte,
könnte Riad für eine Anerkennung Israels Zugang zu fortgeschrittenen
US-Waffensystemen erhalten sowie Unterstützung beim Aufbau eines
zivilen Atomprogramms. Die alten ideologischen Linien Riads scheinen
neuen strategischen Interessen zu weichen.
So könnte Saudi-Arabien den Iran und dessen Verbündete in Syrien und
im Libanon im Ernstfall mit einem neuen Partner Israel bekämpfen,
dessen Luftwaffe zu den besten der Welt zählt. Trotz der im März
angekündigten Normalisierung der Beziehungen mit Teheran betrachtet
Riad - ähnlich wie Israel - den Einfluss des Irans weiter als Gefahr.
Israel: Außenpolitische Hoffnung, innenpolitische Krise
Für Israel und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wäre die
Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien vor allem ein großer
außenpolitischer Erfolg. Seit seiner Rückkehr ins Amt im Dezember
hatte er sie als eines seiner Hauptziele beschrieben. Ein Abkommen
würde «den Lauf der Geschichte» ändern, erklärte der 73-Jährige.
Etwa 30 von weltweit knapp 200 Staaten haben keine diplomatischen
Beziehungen zu Israel, die meisten davon sind mehrheitlich
muslimisch. Nicht alle würden dem Schritt folgen, etwa Algerien,
Pakistan oder der Irak, in dem Kontakt mit Israel inzwischen unter
Strafe steht. Eine teilweise Entspannung im Verhältnis Israels mit
der muslimischen Welt wäre trotzdem denkbar.
Eine Einigung könnte Netanjahu womöglich auch dabei helfen, von der
schweren internen Krise in Israel abzulenken, die seine Regierung mit
ihrer umstrittenen Justizreform ausgelöst hat. Weil er derzeit die am
weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte seines Landes
anführt, ist aber völlig unklar, wie mögliche Zugeständnisse an die
Palästinenser aussehen und ob Netanjahu diese innerhalb seiner
rechts-religiösen Regierung wirklich durchsetzen könnte.
Darüber hinaus pochen Israels Sicherheitsvertreter nach Berichten
darauf, dass der «Qualitätsvorsprung» der israelischen Armee auch im
Rahmen eines US-Sicherheitspakts mit Saudi-Arabien garantiert bleiben
müsse. Der Aufbau eines dortigen zivilen Atomprogramms berge zudem
«eine echte Gefahr», schreiben Analysten des Instituts für Nationale
Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv. «Denn andere Länder im Nahen
Osten könnten ähnliche Forderungen stellen und dies würde das Risiko
der Verbreitung von Atomwaffen in der Region erhöhen.»
USA: Saudi-Arabien als Schauplatz für den Wettkampf mit China
Die USA bemühen sich um eine bessere Positionierung in der Region,
deren Ölgeschäfte und Seewege eine entscheidende Rolle spielen für
die Weltwirtschaft. Denn China, der größte Abnehmer saudischer
Ölexporte, drängt ebenfalls nach Saudi-Arabien und half dem Land laut
US-Berichten schon bei Schritten zum Aufbau eines zivilen
Atomprogramms. Der Besuch dort von US-Präsident Joe Biden vergangenen
Sommer lief nüchterner ab als der warme Empfang für Chinas Staatschef
Xi Jinping wenige Monate später.
Der Mord am Journalisten Jamal Khashoggi, für den US-Geheimdienste
den Kronprinzen verantwortlich machen, belastete die Beziehungen mit
den USA schwer. Auch über die Drosselung der Ölförderung, die die von
Saudi-Arabien angeführten Opec-Länder bestimmt haben, zeigte sich
Washington verärgert. Aber das Königreich ist Schlüssel beim Versuch,
China aus der Region zurückzudrängen und ein Ende des Kriegs im Jemen
herbeizuführen. Für die Palästinenser wollen die USA von Riad ein
«beispielloses Paket» an Finanzhilfen, berichtet die NYT - für den
schwerreichen Golfstaat wäre das durchaus denkbar.
Biden scheint an einem Friedensdeal viel gelegen. Er könnte das Camp
David-Abkommen über einen ägyptisch-israelischen Frieden von 1979
noch übertreffen. Die Regierung von Bidens Vorgänger Donald Trump
hatte 2020 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Israels mit den
Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Bahrain vermittelt, Marokko und
der Sudan folgten. Im anlaufenden US-Wahlkampf gegen Trump könnte
Biden den Deal als eigenen großen Wurf im Nahen Osten präsentieren.
Auch in Washington ist der Weg dorthin steinig. Bidens Verhältnis zu
Netanjahu ist angeschlagen, eine Einladung in die USA ließ monatelang
auf sich warten. Dazu kommt der US-Senat, in dem harte Kritiker Riads
sitzen, der Sicherheitsgarantien zustimmen müsste.
Besorgte Blicke nach Teheran
Selbst wenn das Puzzle sich lösen lässt: Die Umwälzung zum großen
Frieden wäre es für den krisengeplagten Nahen Osten nicht, schreiben
die Experten Steven Simon und Aaron David Miller. Denn das
Kräfteverhältnis würde sich insgesamt nicht wesentlich ändern: Im
Fokus stünden eigene Interessen, die auch die Emirate, Bahrain,
Marokko und den Sudan bei ihrer Annäherung an Israel leiteten.
Die Blicke würden sich vor allem auf den Iran richten. Israel gilt
seit der Islamischen Revolution von 1979 als Irans Erzfeind, und auch
Netanjahu sieht im Iran den «wichtigsten Feind». Saudi-Arabien stünde
mit Beziehungen zu beiden Seiten in der Mitte - und hätte sich einmal
mehr als ernstzunehmender internationaler Akteur positioniert. (dpa)