Ein dritter Weg ist zwingend nötig
Als Reaktion auf die israelische Bombardierung des Gazastreifens wurden im Sommer 2014 in Paris Juden von Muslimen angegriffen. Im Januar dieses Jahres fand die Beisetzung der französischen Juden, die bei dem Überfall auf den koscheren Supermarkt in Paris getötet wurden, in Israel statt. Was verbindet diese beiden Ereignisse? Eine angstgetriebene Politik, die uns unbedingt weismachen will, dass wir noch im Jahr 1938 leben – ein eklatanter Widerspruch zu der heutigen modernen Gesellschaft, die auf Inklusion und Allgemeinwohl aller Bürger basiert.
Der Begriff Antisemitismus ergab etymologisch betrachtet noch nie wirklich Sinn. Er meint "Feindschaft oder Vorurteile gegenüber Juden", obwohl sich das Wort "semitisch" für sich genommen auf Menschen bezieht, die von einer ganzen Reihe von Gruppen abstammen, die eine von mehreren "afro-asiatischen" Sprachen sprechen. Das betrifft schon einen recht großen Teil der Menschheit – darunter auch Araber und viele Muslime, um nur zwei Gruppen herauszugreifen. Heute jedoch sind es lediglich die Juden, auf die dieser Begriff angewendet wird.
Dafür sorgte der Holocaust, die traumatische Kulmination einer jahrhundertelangen Existenz als "die Anderen" in den christlich geprägten Ländern des Abendlandes. 70 Jahren sind nunmehr seit der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vergangen. Doch das nach wie vor mit dem Terminus "Antisemitismus" jongliert wird, zeigt deutlich, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, bevor wir tatsächlich frei sein können.
Instrumentalisierung des Antisemitismus
"In Berlin wurden Juden gejagt wie 1938", erklärte Israels Botschafter in Deutschland, Yakov Hadas-Handelsmann, als sich ein Teil des hauptsächlich muslimischen Protests gegen den jüngsten Krieg Israels gegen die Hamas in anti-jüdischen Hass umschlug. Wenn das wirklich wahr sein sollte, habe ich, als ein in Berlin lebender Jude, entweder großes Glück gehabt oder aber ich bin sehr naiv. Oder liegt es daran, dass diejenigen, die sich für ein Leben als Opfer entschieden haben, einfach passende Gründe für ihre Angst finden, nach denen sie suchen?
Juden bilden noch immer die Zielscheibe von Attacken, doch auf individueller Ebene wird das von der Gemeinschaft verdammt. Ich tue mich schwer damit, dies als Antisemitismus zu bezeichnen – nämlich als etwas, das instinktiv (und beabsichtigt) Szenarien einer systematischen, staatlich-initiierten Auslöschung heraufbeschwört und die Botschaft in sich trägt: Juden, inmitten der Gojim (Völker/Staaten; Anm. d. Red.) werdet Ihr niemals sicher sein!
Das ist nichts anderes als die Instrumentalisierung des Antisemitismus. Auf diese Instrumentalisierung wird zurückgegriffen, um eine Politik der Spaltung zu betreiben, die das Zusammenleben so viel schwerer macht. Vier französische Bürger wurden eingeäschert in einem Land, dessen Staatsbürgerschaft sie ebenso wenig besaßen wie das Wahlrecht, während Benjamin Netanjahu alles daran setzt, sich zum Premierminister der Juden zu erklären. So ist es denn auch kein Wunder, wenn einige Menschen jüdische Mitbürger oder Einrichtungen stellvertretend für eine israelische Politik ansehen, die sie strikt ablehnen.
Suche nach Gemeinsamkeit statt nach Spaltung
Angst und Spaltung sind genau das, was weiße Rassisten, islamische Terroristen und andere "gegen-alles-Andere" gerichtete Bewegungen wie Pegida in Deutschland propagieren. Sie alle bedeuten einen Fluch für den freien Markt und die offenen Grenzen und richten sich gegen jede Form der Menschlichkeit sowie gegen den ethnischen und zivilen Nationalstaat.
Daher muss unbedingt ein dritter Weg gefunden werden, der nicht in einer Spaltung endet, sondern die Menschen zusammenbringt, in einem Umfeld, das uns näher und greifbarer erscheint: in den Städten, in denen wir gemeinsam leben und die wir als unsere Heimat ansehen. Auf dieser Ebene können wir etwas bewirken. Nur so können wir gegen Verbrechen kämpfen, für Arbeit, Bildung, die Umwelt und für eine verantwortungsbewusste Regierungsführung. Diese Bereiche sind uns viel vertrauter und wichtiger als die Außenpolitik von Staaten, die uns eher auseinanderbringt.
"Wir sind keine Soldaten, die sich an zwei Fronten gegenüber stehen. Wir sind normale Leute, die in der gleichen Stadt leben", meint etwa Armin Langer, Rabbinatsstudent und Gründer der Berliner Bürgerinitiative „Salaam-Shalom". "Vielleicht gelingt es uns, in Berlin etwas Friedlicheres aufzubauen."
Damit aber Frieden in der Welt möglich ist, muss zuerst Friede in den Städten herrschen – zwischen Nachbarn, die sich als solche begreifen und nicht mit den immer gleichen Etiketten behaftet sehen wollen, wie sie nur in der Mottenkammer der Geschichte zu finden sind. Unser Leben hier darf dem Krieg in der Ferne nicht auch zum Opfer fallen.
William Noah Glucroft
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol