Mauern abbauen
Sitzen zwei Juden auf dem grünen Teppich der Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln. David, ein Filmemacher israelischer Herkunft und ich, sichtlich angestrengt, authentische Gespräche mit den Gemeindemitgliedern zu führen.
Ahmad, ein Besucher aus Uganda nahm neben uns Platz. Der junge Mann lauschte aufmerksam unseren Gesprächen, obwohl er kein Deutsch verstand. Er starrte noch ein paar Minuten und sprach uns dann an. "Ihr seid Juden?", fragte der überrascht und tat auch nicht so, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass zwei Juden auf dem grünen Teppich einer Moschee Platz nehmen.
Er habe noch nie in seinem Leben Juden gesehen, gab er zu. Ahmad hatte natürlich ein Bild davon, wie ein Jude so sein kann. Sein Bild von uns war nicht besonders positiv, er assoziierte das Wort "Jude" mit dem Wort "israelischer Soldat". Nach der Begegnung in der Sehitlik-Moschee räumte er ein, seine Einstellung nunmehr ändern zu wollen. "Ich werde in Uganda allen von Euch netten Juden erzählen!"
Selbstkritisch gab er zu, dass er vorher nie gedacht hätte, dass es außerhalb der israelischen Armee auch Juden gebe. Und weil es in Uganda irgendwo auch Juden gibt, versprach er uns, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Er wolle ein bisschen "Salaam-Schalom" in seinem Land betreiben.
Neukölln – eine No-Go-Area für Juden?
David, unser ehrenamtlicher Kameramann, ist ein sehr netter Mensch, was ich auch von mir behaupten möchte. Doch unsere Persönlichkeiten an sich wären nicht genug gewesen, um Ahmads Einstellung zu Juden so schnell zu ändern. Es lag hauptsächlich an unseren Fragen, die wir an diesem Tag auf dem Teppich der Moschee an die Gläubigen richteten: Wie fühlt Ihr Euch, wenn Ihr die Aussage hört, dass Neukölln eine No-Go-Area für Juden ist? Sind "zu viele Muslime" ein Grund für Juden, diesen Ort zu meiden? Wie fühlt Ihr Euch, wenn gesagt wird, dass Juden Angst vor Euch haben sollen?
Meine Lieblingsantwort gab eine Muslima aus der Emser Straße in Berlin-Neukölln: "Mein größtes Problem mit Juden ist, dass wenn ich meine jüdischen Nachbarn zum Essen einlade, ich immer darauf achten muss, dass ich Fleisch- und Milchgerichte nicht zusammenkoche." Nein, Neukölln ist keine No-Go-Area für Juden, das haben David, ich und all die anderen jüdischen und nicht-jüdischen Mitglieder unserer Initiative im ersten Jahr von "Salaam-Schalom" gelernt. Das bestätigten nach unseren ersten Kurzgesprächen auch jüdische Neuköllner.
Der klischeehaften Annahme, Neukölln sei angeblich kein guter Ort für Juden in Deutschland, gingen wir auf den Grund und suchten in diesem Stadtteil nach Gesprächspartnern. Was wir entdeckten, waren so viele glückliche Juden in Neukölln, sodass wir am Ende genug Material für ein einstündiges Video hatten. Aber wer schaut sich schon eine ganze Stunde Filmmaterial mit der immer gleichen Botschaft an: "Ich bin Jude und lebe gerne und sicher in Neukölln".
Gegen Stigmatisierung des muslimischen Nachbarn
Doch die Aussage, Neukölln sei eine No-Go-Area für Juden, wiederholte Rabbiner Daniel Alter, der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde zu Berlin zu oft, zu öffentlich, um sie einfach zu ignorieren. Das kleinere Problem damit war, dass er die Erfahrungswerte der Neuköllner Juden gänzlich überhörte. Einige tragen Kipa, andere sprechen Hebräisch auf der Straße, keiner von uns muss seine jüdische Identität in Neukölln verstecken.
Aber es gibt auch ein größeres Problem mit der Aussage von Rabbiner Alter: Sie stigmatisiert unsere muslimischen, vor allem unsere arabischen und türkischstämmigen Nachbarn. Wir wollten Stigmatisierungen, die zu Misstrauen und Spannungen führen, auflösen, bevor sie uns und anderen tatsächlich gefährlich werden.
Die Zahlen der Bundesregierung sind deutlich und stehen allen Interessierten zur Verfügung: Mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straf- und Gewalttaten werden von Rechtsextremisten begangen, also von Deutschen ohne Migrationshintergrund, von Deutschen mit einem vermutlich christlich-abendländischen Hintergrund, wenn sie sich denn als gläubig sehen. Viele Mainstream-Medien in Deutschland nahmen dennoch die These des "importierten Hasses" gerne auf, um gegen die Anderen, gegen Muslime und Migranten in Neukölln zu schreiben. Antimuslimische Ressentiments verkaufen sich besonders gut, wenn Muslime gegensätzlich zu Juden dargestellt werden.
Aus der Verantwortung stehlen
Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass wir, d.h. die schon zum Mainstream der Gesellschaft gehörenden Juden gegen die in Deutschland noch nicht fest verwurzelten Muslime und Migranten ausgespielt wurden. So kam es auch dazu, dass, während des Gaza-Krieges und im Verlauf der Gaza-Solidaritätsdemonstrationen Ende Juli 2014 sich plötzlich die ganze deutsche Öffentlichkeit aus Philosemiten bestand: Einige Zeitungen beschrieben schon den Antisemitismus als eine rein islamisch geprägte Importware aus dem Ausland. Nach dem Motto: Der einfachste Weg, die Verantwortung – auch die historische – beiseite zu wischen lautet: Beschuldige die Migranten!
Damals, im Sommer 2014, hielt ich mich in Israel auf. Als ich meiner Hebräischklasse an meiner Universität in Jerusalem erzählte, was gerade in Deutschland passiert, fragte mich dieDozentin: "Was? Die Deutschen sagen, dass Antisemitismus etwas Neues in Deutschland wäre?!" So verwandelte sich der Sprach- in einen Crashkurs in Diskursanalyse rund um die Themen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland.
Juden und Muslime sind keine Feinde
In Gaza bombte unterdessen die israelische Luftwaffe, auf den Straßen deutscher Städte fanden antisemitische Ausschreitungen statt und deutsche Medien reproduzierten antimuslimische Hetze. In diesem Durcheinander rief ich an einem Donnerstagmorgen aus einer Synagoge in Berlin-Ender den Imam der Sehitlik-Moschee an und sagte ihm: "Wir müssen etwas dagegen gemeinsam unternehmen!" Und kurzerhand lud die Moscheegemeinde gemeinsam mit der Salaam-Schalom Initiative zu einem Flashmob ein. Wir suchten uns hierzu nicht irgendeinen Ort aus. Während einer Veranstaltung der palästinensischen Gemeinde in Berlin wollten wir zeigen, dass Juden und Muslime in Deutschland keine Feinde sind.
Einige Demonstranten brachten Tesbihs, muslimische Gebetsketten mit, andere kamen mit Kippot auf dem Kopf, andere wiederum verzichteten auf Symbole. Denn die bloße Anwesenheit zeigte bereits viel. Gemeinsam demonstrierten wir an diesem Tag nicht für den Frieden im Nahen-Osten, sondern gegen die antimuslimische und antisemitische Hetze in unserer Heimat Deutschland.
Wir sagten "Nein" zum gewollten, konstruierten und medialisierten Import von Konflikten. "Juden und Muslime Hand in Hand" – so lautete unser Motto. Die Polizisten, die im Einsatz waren, die mich bei der kurzfristigen Anmeldung noch davor warnten, Kippot-tragende Juden bei einem Flashmob in Neukölln neben einer großen Ansammlung von Arabern auftreten zu lassen, schauten etwas verwundert, dass alles friedlich blieb und dass sich viele Besucher des arabischen Straßenfestes spontan in unsere Menschenkette für den Frieden in Deutschland einreihten.
"Für ein friedliches Zusammenleben in Neukölln und darüber hinaus"
Unter dem gleichen Motto veranstalteten wir im letzten Jahr zahlreiche offene Gesprächsrunden und Workshops in Gemeindezentren, Synagogen, Moscheen, manchmal auch in Wohnungen oder in Parks. Diese Begegnungen wurden immer von Überraschungen begleitet. Denn "die natürliche Feindschaft zwischen Juden und Muslimen" wird uns fast täglich durch die Mainstream-Narrative erklärt: Durch persönliche Begegnungen werden diese künstlichen Mauern abgebaut.
Unsere Geburtstagsparty veranstalten wir vor Kurzem ganz bewusst im Berliner Stadtviertel Wedding. Wir wollten damit ein Zeichen setzen. Nicht umsonst verstehen wir uns als Initiative "für ein friedliches Zusammenleben in Neukölln und darüber hinaus".
Obwohl unsere Veranstaltungen bislang mehrheitlich in Neukölln stattfanden und auch viele unserer Mitglieder aus Neukölln stammen, richtet sich unsere Botschaft grundsätzlich an alle. Ein friedliches und solidarisches Zusammenleben der unterschiedlichen gesellschaftlichen, religiösen Gruppen betrifft uns alle, ganz egal welche Konflikte geschürt werden.
Armin Langer
© Qantara.de 2015
Der Autor ist Koordinator der Salaam-Schalom Initiative. Nach seinem Abschluss seines Philosophiestudiums in Budapest kam er nach Berlin. Derzeit studiert Armin Langer Jüdische Theologie an der Universität Potsdam.