Karims Abenteuer
Wenn der kleine Karim abends im Bett liegt, sieht er merkwürdige Gestalten in den feuchten, dunklen Flecken an der Zimmerdecke. Figuren, die ihn zu Abenteuern in eine andere Welt mitnehmen. Doch eines Abends sind die Figuren verschwunden: Sein Vater hat die Flecken überstrichen. Karim ist traurig, greift aber dann zu Stift und Papier, um die Erlebnisse seiner imaginären Freunde aufzuschreiben.
"Die Lebewesen an der Zimmerdecke" (Kanat saqf al-ghurfa) von Nabiha Mheidly gehört mit 12.000 verkauften Exemplaren zu den populärsten arabischen Kinderbüchern. Es wurde als eines von 40 als besonders empfehlenswerten arabischen Kinderbüchern für junge Leser im Alter von bis etwa zehn Jahren ausgewählt.
Die Internationale Kinder- und Jugendbibliothek hat am vergangenen 11. und 12. April in München bei den Arabischen Kinderbuchtagen im Kulturzentrum Gasteig ihre Auswahl vorgestellt. Sie ist das erste Ergebnis eines dreijährigen Projekts (2017-2020), das einen Einblick in die arabische Kinder- und Jugendbuchliteratur geben soll.
Der syrisch-kurdische Orientalist und Kulturhistoriker Azad Hamoto hat die Auswahl in mühevoller Kleinarbeit getroffen. Neben einer literaturkritischen und pädagogischen Bewertung von Kinder- und Jugendbücher geht es den Initiatoren um den Aufbau von Netzwerken mit Verlagen, Autoren und Lektoren in den arabischsprachigen Buchmärkten.
Kaum Übersetzungen ins Deutsche
Bisher spielt arabische Kinder- und Jugendbuchliteratur hierzulande keine Rolle. Es gibt so gut wie keine Übersetzungen ins Deutsche und kaum Angebote für arabische Familien in den Bibliotheken. Ausnahme sind einige wenige zweisprachige Kinderbücher von Edition Orient und Baobab Books. Erziehern und Lehrern fehlt es an Orientierung, welche Geschichten geeignet sind.
Diese Lücke will die Internationale Kinder- und Jugendbibliothek schließen. Die ausgewählten Kinderbücher sind alle sprachlich und inhaltlich hochwertig. Sie bieten Geschichten, Fabeln und Märchen aus der arabischen Erzähltradition, Bilderbücher und fiktionalisierte historische Erzählungen über Ibn Battuta, Ibn Sina (Avicenna) oder Sindbad den Seefahrer. Die Werke sind ab 2015 erschienen und schön illustriert.
"Wir wollen wissen, welche Geschichten arabischen Kindern erzählt werden", sagte Christiane Raabe, Direktorin der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek im Gasteig. "Wenn wir zusammenwachsen wollen, dann muss uns das interessieren." Originalsprachige Kinderbücher könnten Brücken in eine hierzulande weitgehend unbekannte Kultur bauen, die häufig stereotyp wahrgenommen wird.
Die Auswahl soll Bibliotheken, Kindertagesstätten und Schulen anregen, Kinderbücher in arabischer Sprache anzuschaffen. Die Bücher sollen Kindern, die auf der Flucht alles verloren haben, ein Stück Heimat zurückgeben und sie in ihrer Sprachentwicklung unterstützen.
In den letzten Jahren hat sich das arabische Kinderbuch enorm weiterentwickelt. Die Qualität von Sprache, Illustrationen und Herstellung sei gestiegen, berichtete die libanesische Verlegerin und Autorin Nabiha Mheidly bei den Kinderbuchtagen. Ihr 1987 in Beirut gegründete Verlag Al-Hadaek war der erste Buchverlag in der arabischen Welt, der ausschließlich Kinder- und Jugendbücher herausgibt.
Neuer Kinderbuch-Boom in der arabischen Welt
Mheidly verlegt Autoren aus Ägypten, Syrien, Oman, Bahrain und Tunesien. "Seit etwa 2012 erlebt das Kinderbuch in der arabischen Welt einen Boom", meint die Verlegerin. Neue Preise und Auszeichnungen für Autoren vor allem in den Emiraten sowie das Anna-Lindh-Programm hätten zu diesem wachsenden Interesse geführt.
Neue Kinderbuchverlage seien vor allem im Libanon, den Emiraten und Jordanien entstanden. Im Bereich Jugendbuch ist das Angebot zwar noch dünner, aber auch hier gebe es inzwischen Autoren, die die Lebenswelt arabischer Jugendlicher treffen und entsprechend gern gelesen werden. Als Beispiele nannte sie den algerischen Autor Ahmed Sibyaa mit seinem Roman "Markt des Glücks" (Souk as-Saada - Market of happiness) und die in Ramallah lebende palästinensische Schriftstellerin Mais Dagher mit "Die Clique" (al-Schilla).
Die Auflagen der Bücher sind dabei immer noch klein gemessen an der Bevölkerungszahl. Insgesamt wird im internationalen Vergleich in der Region nur wenig gelesen. Ein Hauptproblem für arabische Verleger ist der Vertrieb. Da ein Buchzwischenhandel fehlt, ist es aufwendig und teuer, Bücher in der Region zu vertreiben. "Unsere wichtigsten Abnehmer sind Privatschulen", sagt Mheidly.
Nabiha Mheidly meint, dass Kinder auf der ganzen Welt die gleichen Geschichten lieben. Trotzdem spiele der gesellschaftliche Kontext ihrer Entstehung eine Rolle. Dieser Kontext hat sich verändert und damit auch das Konzept von Kinder- und Jugendbüchern.
Pädagogisch orientierte Literatur im Vordergrund
Standen vor rund 20 Jahren noch pädagogisch orientierte Bücher mit Erziehungs- und Bildungsanspruch im Vordergrund, geht es heute vor allem um gut erzählte und schön illustrierte Geschichten. Und: Die Welt im Kinderbuch ist nicht mehr rosa. Neue Themen werden aufgegriffen, so zum Beispiel in dem Buch "Alyaa und die Katzen" (Alya wa al-Qitat at-Talat) der marokkanischen Autorin Amina Hashimi Alaoui. Da geht es um Schwangerschaft und Geburt, das ist neu für die arabische Welt. Vernachlässigung, Pubertätskonflikte und Familienstreitigkeiten sind kein Tabu mehr.
So erzählt die Libanesin Lorca Sbeity (geb. 1979) in "Ich habe nicht ein Haus sondern zwei Häuser" die schmerzliche Geschichte einer Trennung aus der Perspektive des Kindes. Auch die Rolle von Müttern hat sich verändert. "Das Klischee vom Vater, der die Zeitung liest, während die Mutter kocht, gibt es heute so nicht mehr im Kinderbuch", betont Mheidly. So ist das Kinderbuch auch ein Spiegel sich verändernder arabischer Gesellschaften.
Eigene Bildsprache
Bei den Illustrationen habe sich inzwischen eine eigene Bildsprache entwickelt, sagte der ägyptische Illustrator Walid Taher. Vor allem in Ägypten sei eine Schule von Zeichnern entstanden, die sich von den italienischen und französischen Vorbildern emanzipieren konnte.
Die aktuellen Konflikte in der Region finden so gut wie keinen Niederschlag in den Büchern. Eine Ausnahme stellt die Geschichte "Die Migranten-Katze" (al-Qitta al-Muhajira) des syrischen Autors Jekar Khourchid dar, der im Exil in Den Haag lebt. Dieses Buch erzählt mit einer Katze als Protagonistin von Gewalt, Zerstörung und Flucht.
An einem friedlichen Wintertag treibt ein Orkan die Katze Mira aus der Stadt. Auf der Flucht gelangt sie in die Stadt der Hunde sowie in die Länder der Krokodile, Elefanten und Igel: Nirgends ist sie willkommen. Erst als sie dem Wiedehopf begegnet, kann sie so etwas wie ein Zuhause finden.
In den Kinderbüchern aus ihrer Kultur sollen auch Kinder aus arabischen Familien, die jetzt in Deutschland groß werden, ein Zuhause finden. Die Münchner Stadtbibliothek hat bereits jeweils zwei Exemplare aller empfohlenen Bücher bestellt.
Claudia Mende
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