"Einfach Lesen!" – Ankommen auf Arabisch und Deutsch
Im Bücherzimmer der Flüchtlingsunterkunft haben sich sieben Kinder um Amena Ragess versammelt, darunter auch ihr zehnjähriger Sohn Farouk. Sie hören gespannt und aufmerksam der Geschichte einer Straßenbahn zu, die keine Lust mehr auf den immergleichen Trott hat und beschließt, aus ihren gewohnten Bahnen auszubrechen. Auf dem Weg in den Wald sammelt sie Tiere wie einen Hahn, einen Esel und eine Katze ein.
Amena Ragess und die Kinder ahmen gemeinsam das I-A und Miau der Tiere nach. Dann liest Farouk eine Passage auf Arabisch vor. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in der Flüchtlingsunterkunft im Berliner Stadtteil Reinickendorf Geschichten zu hören sind. Zweimal in der Woche, immer am Mittwochnachmittag, kommen Ehrenamtliche der Initiative "Willkommen in Reinickendorf" hierher, um den jungen Geflüchteten aus deutschen Kinderbüchern vorzulesen. Neu ist, dass die Kinder nun auch die Möglichkeit haben, in ihrer eigenen Sprache im fremden Land anzukommen.
Die neue Heimat verstehen lernen
Unter dem Motto "Einfach Lesen!" hat das Goethe-Institut zusammen mit dem Verlag Hans Schiler eine sechsteilige deutsch-arabische Kinderbuchreihe aufgelegt. Zweisprachig herausgegeben wurden Klassiker wie "Die ganz besonders nette Straßenbahn" von James Krüss, Paul Maars "Einer mehr" und Ernst Jandls "fünfter sein".
Es sind leicht verständliche, bunt illustrierte Geschichten, die den jungen Zuhörerinnen und Zuhörern, aber auch den Leserinnen und Lesern helfen sollen, ihre neue Heimat zu verstehen und sie in der eigenen Erlebniswelt abholen.
Auf die Frage, welches Buch ihm besonders gut gefalle, deutet der zehnjährige Farouk auf "Der wunderbarste Platz auf der Welt" von Jens Rassmus. Es erzählt von einem Frosch, der in seinem Teich nicht mehr sicher ist und auf seiner Suche nach einer neuen Bleibe nicht nur freundlichen Tieren begegnet. "Ich mag es, dass der Frosch so viel unterwegs ist", sagt der zehnjährige Farouk. Auch James Krüss' Nette Straßenbahn findet er gut: "Weil ich selbst mit der Tram zur Schule fahre".
Flucht über viele Berge
Farouk besucht die Willkommensklasse einer Reinickendorfer Grundschule und spricht bereits gut Deutsch. "Wir machen Sachunterricht, Deutsch und Mathe", erzählt er.
Farouk und Amena Ragess stammen aus Damaskus, der Vater ist noch immer dort. Mutter und Sohn sind über die Türkei, Griechenland, Albanien, Serbien und Österreich nach Deutschland geflohen. "Wir sind über viele Berge gelaufen", beschreibt Ragess die beschwerliche Route. Am 18. Mai 2015 – an das Datum erinnert sie sich genau – passierten sie schließlich die deutsche Grenze.
Wenige Wochen später kamen sie in Berlin an. Sie kennen die Stadt mittlerweile recht gut, berichten vom Alexanderplatz und vom Zoo. Doch der überwiegende Teil ihrer bisherigen Erfahrungen spielt sich in der Flüchtlingsunterkunft ab, in der 900 Menschen auf vier Häuser verteilt leben, darunter 200 Kinder im Vorlesealter.
Werte vermitteln
Welches Bild von Deutschland vermitteln die zweisprachigen Bücher? Die 39-jährige Amena Ragess, die in Syrien Lehrerin war und Gesellschaftskunde unterrichtet hat, überlegt kurz. "Man bekommt viel von der Landschaft mit, von Bergen und Wäldern. Man merkt, dass Deutschland ein vielfältiges Land ist", antwortet sie. Ragess selbst mag vor allem Paul Maars "Eine gemütliche Wohnung".
Ein Zuhause, das eine Küche und eine Waschmaschine hat, wie es darin beschrieben wird – das erinnert sie an Damaskus. Susan Hermenau, die für die Prisod Wohnheimbetriebs GmbH arbeitet, die das Flüchtlingsheim unterhält, freut sich, dass in den Büchern "Reisen und Aufbrüche so positiv besetzt sind".
"Die Protagonisten sind lebensfroh und stellen sich ihren Abenteuern – das hilft den Kindern." Zudem transportierten die Bücher universelle Werte wie Freundschaft und Hilfsbereitschaft. "Kulturelle Unterschiede, die sichtbar werden, entfremden sie nicht, sondern führen zusammen", findet Hermenau.
Die Eltern sind eingebunden
Das Buchpaket des Goethe-Instituts – eines von insgesamt 300, die dank einer Spende der Japan Art Association an Initiativen und Einrichtungen für Geflüchtete verschickt werden konnten – ist erst seit kurzem in Reinickendorf im Einsatz. Amena Ragess zählt zu den ersten Müttern, die aus den zweisprachigen Werken vorlesen. Hermenau beobachtet jedoch schon jetzt, dass die Kinder extrem positiv darauf reagieren. Sie genössen die Aufmerksamkeit und kämen inmitten des oft lärmenden Heimalltags zur Ruhe – "ohne dass jemand sie exotisiert und zu Flüchtlingskindern macht".
Auch für die Eltern sei das Vorlesen eine sehr positive Erfahrung, weil es sie nicht an der Sprachbarriere scheitern lasse und bei der Selbstermächtigung helfe. "Wir freuen uns besonders über solche Angebote, die unseren Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit geben, Akteure zu sein", so Hermenau.
Einfach Deutschlernen
Neben dem Buchpaket stehen auch Hörbücher zur Verfügung, die auf Arabisch vorgelesen werden – darunter Klassiker wie Die kleine Hexe von Ottfried Preußler oder Cornelia Funkes Herr der Diebe. "Einfach Hören!" nennt sich dieses Projekt. Die Postkarten mit den QR-Codes, die zu den Podcasts führen, sind in der Reinickendorfer Einrichtung verteilt.
Wie viele Bewohner davon Gebrauch machen, ist allerdings schwer einzuschätzen. Immerhin benötigt man dafür ein entsprechendes Endgerät mit Internetzugang, das nicht jeder besitzt.Die Kinderbücher jedenfalls, findet Amena Ragess, "helfen beim Deutschlernen, weil sie in einer einfachen Sprache verfasst sind".
Als sie in Berlin ankamen, sprachen sie und ihr Sohn kein Wort der fremden Sprache. Während die Mutter unterdessen einen Kurs belegt hat, in dem sie ihre Kenntnisse vertiefen will, macht Sohn Farouk in der Schule große Fortschritte. Er kann in einfachen Worten auch die Geschichte erzählen, die er in Syrien am liebsten gehört hat: Leila und der Wolf. Hierzulande bekannt als Rotkäppchen.
Patrick Wilderman