Die hässliche Fratze des Syrienkrieges
Abgerissene Gliedmaßen, Menschen auf Krücken, im Rollstuhl, mit Augenklappe. Wenn der Krieg nicht tötet, sondern "versehrt", denkt man an diese Erscheinungsbilder. Tatsächlich haben die Kampfhandlungen zwischen Levante und Tigris ein Heer solcher Kriegsversehrter geschaffen.
Die Zerstörung in Syrien hat viele Gesichter. Der Krieg macht die Menschen auf vielerlei Art verwundbar. Er schwächt u.a. auch ihre Immunität. Viele sind unterernährt und überleben unter prekären hygienischen Bedingungen. Gleichzeitig bringt der Krieg sie verstärkt in Berührung mit der Sandmücke. Eine folgenreiche Kombination.
Das Insekt findet in den Trümmern der Städte und Dörfer, im herumliegenden Müll und rund um improvisierte Latrinen neue Lebensräume. Es breitet sich aus in den Rissen, Brüchen und Aborten der untergehenden Zivilisation. Flüchtende Menschen übernachten häufig im Freien oder in Zeltlagern, sind dadurch dem Ungeziefer überdurchschnittlich oft ausgesetzt.
Fataler Anstieg der Neuinfektionen
Das Weibchen der Sandmücke überträgt einen Parasiten, der eine in Syrien seit jeher bekannte Hautkrankheit auslöst. In der Umgangssprache heißt sie "Aleppo-Beule", benannt nach der historischen Metropole im Norden des Landes. Der Parasit frisst die Haut weg und hinterlässt an ihrer Stelle geschwürartiges Gewebe. Seit Kriegsbeginn geht die Zahl der Infektionen steil nach oben.
"Vor dem Krieg gab es in ganz Syrien rund 10.000 neue Fälle pro Jahr", berichtet Kinan Hayani. Bis Ende 2011 arbeitete der Hautarzt in der Uni-Klinik von Aleppo. Dann flüchtete er. Jetzt ist der 35-jährige Assistenzarzt am Institut für klinische Sozialmedizin der Uni-Klinik Heidelberg. Er ist Experte für kutane Leishmaniose, wie die Hautkrankheit wissenschaftlich heißt. Mit seinen früheren Kollegen in Aleppo steht Hayani noch in Kontakt. "Im Jahr 2013 haben meine ehemaligen Kollegen allein in der Stadt 23.000 Neuinfektionen gezählt, und zwar nur in dem Teil von Aleppo, der von den Regierungstruppen kontrolliert wird", sagt er. Danach habe das Assad-Regime dem Leishmaniose-Zentrum an der Klinik in Aleppo verboten, Statistiken bekannt zu geben, aus Gründen der nationalen Sicherheit", so Hayani.
Wegen der Wirren des Krieges gibt es keine genauen Zahlen mehr. Landesweit gehe man von einem "Anstieg um das drei- bis fünffache" im Vergleich zur Vorkriegszeit aus, berichtet er weiter. Dies bedeutet Hunderttausende Infektionen seit Kriegsbeginn. Diesen Ausbruch der Krankheit bezeichnet Hayani als "grausam", zumal die Betroffenen oft gar nicht oder falsch behandelt werden. Ein Medikament, das den Wirkstoff Antimon enthält und in die infizierten Hautstellen gespritzt werden muss, stoppt den Parasiten.
Narben, die bleiben
"Wenn Leishmaniose unbehandelt bleibt, hinterlässt die Krankheit hässliche Narben", erklärt der Arzt aus Syrien. Patienten, die von den Wunden und Narben der Aleppo-Beule entstellt sind, leiden häufig auch unter Depressionen und Angststörungen, wie Studien belegen.
Die Symbolik ist unübersehbar. Vielleicht wird einmal in Geschichtsbüchern oder Kunstausstellungen das Bild eines kleinen Mädchens, dem der Leishmaniose-Parasit Nase und Wange weggefressen hat, eine der zahlreichen hässlichen Fratzen des Syrienkrieges darstellen. Das Ungeziefer, das sich breit macht, wenn eine Zivilisation zusammenbricht, die Zusammenarbeit und Verständigung unter den Menschen versagen: Dieser Topos entstand im Vorderen Orient zu biblischen Zeiten. Er holt die Region jetzt wieder ein.
Und nicht bloß die Region. Selbstverständlich leiden auch manche Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, unter Leishmaniose. Zum Beispiel Khalaf Bare aus Hasake, der im Oktober 2015 zu seinen Angehörigen in Deutschland flüchtete. Der Mann zeigte seine Wunden an der linken Hand und am rechten Bein drei Ärzten in Niedersachsen und Bremen. Sie vermuteten Brandwunden oder sonstige Kriegsverletzungen. Khalaf Bare bekam zunächst keine Hilfe.
Wie unzureichend Deutschland auf das Thema eingestellt ist, zeigen Anrufe bei Dienststellen, die eigentlich im Bilde sein müssten. Der zuständige Experte im Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg kann mit der Fragestellung, wie sich der Krieg in Syrien auf die Leishmaniose-Inzidenz auswirke, nichts anfangen. Er verweist auf das Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE). Dort zuckt man ebenso mit den Achseln, bestreitet sogar einen Anstieg der Leishmaniose-Fälle infolge des Krieges, auch wenn man in der Ambulanz “gelegentlich Flüchtlinge sehe”, die von dem Parasiten befallen seien.
Fehlende Empathie
Nicht die Expertise fehlt vielerorts, sondern die Empathie. Das zeigt sich auch im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg. Dort ist man mit der Krankheit wohl vertraut. In Afghanistan fürchteten deutsche Soldaten die Sandmücke mehr als die Taliban. Das hat der Autor dieser Zeilen im Jahr 2006 bei Besuchen im Lager Kunduz erlebt. Anti-Mücken-Spray war dort eine wichtige Verteidigungswaffe. Trotzdem erkrankten einige Soldaten. Die Reaktion war panisch. Aber Syrer, Flüchtlinge, die von Leishmaniose befallen sind? Das interessiert hier nicht. Damit mag man sich nicht beschäftigen.
Noch einmal drängt sich Symbolik auf. Die Gleichgültigkeit führender deutscher Institutionen gegenüber diesem Thema erinnert an die Unbekümmertheit, mit der die internationale Gemeinschaft dem Kriegstreiben in Syrien jahrelang zugeschaut hat.
Die vergleichsweise kleine Klinik Bassum bei Bremen geht mit besserem Beispiel voran. Die dortige Abteilung für Hand- und Plastische Chirurgie war die vierte Anlaufstelle, bei der Flüchtling Khalaf Bare Hilfe suchte. Dort hörte man dem syrischen Patienten, der von Mückenstichen berichtete, aufmerksam zu und stellte die richtige Diagnose.
Insgesamt brauche die Fachwelt in Deutschland "etwas mehr Sensibilität" bei dem Thema, rät Kinan Hayani, der Arzt aus Aleppo. Es geht eben um mehr als Medizin. Wie der persische Dichter Saadi (1210 – 1292) mahnte:
"Die Menschen sind Glieder miteinander verwoben,
vom gleichen Stoff aus der Schöpfung gehoben.
Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfasst,
So bleibt den anderen weder Ruh noch Rast."
Stefan Buchen
© Qantara.de 2016
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für "Panorama" und andere ARD-Sendungen.