Furcht vor Veränderung
Das gegenwärtige arabische Herrschaftssystem offenbart ein folgenschweres Paradoxon, das im Nichtvorhandensein gesellschaftlicher Herausforderungen besteht, mit denen sich die herrschenden autoritären Regime konfrontiert sehen. Das ist erstaunlich – angesichts der offensichtlichen Schwäche, die diese Herrschaftseliten bei sozialen und wirtschaftlichen Leistungen an den Tag legen. Die Bilanz ihrer Erfolge in punkto Wachstum und Entwicklung fällt schließlich verheerend aus.
So bewegen sich zum Beispiel – die Golfstaaten einmal ausgenommen – die Armuts- und Arbeitslosigkeitsraten sowie die Analphabetenquote in der gesamten arabischen Welt unverändert auf einem Höchststand, während das Niveau öffentlicher Leistungen in entscheidenden, lebenswichtigen Bereichen wie Schul- und Hochschulbildung, Gesundheit und der sozialen Absicherung zur Unterstützung von Einkommensschwachen, Armen und Alten einen nie dagewesenen Tiefstand erreicht haben.
Ebenso gilt unverändert das Versagen der herrschenden autoritären Strukturen bei ihrem Kampf gegen gefährliche, um sich greifende Phänomene wie Korruption, Günstlingswirtschaft und Missbrauch öffentlicher Ämter, die einer wirklichen Entwicklung entgegenstehen und diese verhindern. Gleiches gilt für das beinahe vollkommene Fehlen von Transparenz und Rechenschaftspflicht als Prinzipien, welche die Arbeit öffentlicher und privater Körperschaften bestimmen und leiten sollten.
Fehlende gute Regierungsführung
Wir stehen hier vor einer autoritären Herrschaft, die der Rechtmäßigkeit ihrer Amtsführung entbehrt, und dies im Sinne der damit einhergehenden Verpflichtung zu Entwicklung und in Bezug auf alle Inhalte, die sich mit Good Governance in Verbindung bringen ließen. Ja, wir haben es mit einer autoritären Herrschaft zu tun, deren Eliten mit eiserner Faust über den Staat, die Gesellschaft und die Bürger herrschen, auf politischem Feld keinen echten Wettbewerb zulassen und (in unterschiedlichem Maße) die Freiheiten und Rechte der Menschen auf Meinungsäußerung, Selbstorganisation und Beteiligung an öffentlichen Belangen einschränken und begrenzen.
Doch ungeachtet all dessen sehen sich die Herren Diktatoren in beinahe allen arabischen Staaten nicht mehr im größeren Ausmaß von ihren Gesellschaften ernsthaft herausgefordert, weshalb sie lediglich umfangreiche, jedoch kaum aufwendige Unterdrückungsmaßnahmen einleiten müssen, um die Kontrolle zu behalten.
Das Paradox liegt mithin in der bemerkenswerten Art und Weise, in der die gesellschaftspolitische und ökonomische Unfähigkeit der herrschenden arabischen Eliten und der daraus resultierende Verlust einer Legitimierung ihres Handelns einhergeht mit einer nachgerade beruhigenden und unbeschwerten Stabilität und Kontinuität ihrer autoritären Herrschaft.
Überwachung und Unterdrückung
Um dieses Paradoxon einer Analyse zu unterziehen, lassen sich eine Reihe von Ansätzen zu Hilfe zu nehmen, welche Politologie und Soziologie liefern:
Der Kern des ersten Ansatzes besteht in einer Analyse des Handelns der militärischen, polizeistaatlichen und geheimdienstlichen Organe, die in den arabischen Ländern zweifelsohne aufgewertet werden und Finanzmittel beanspruchen, die einen kontinuierlich wachsenden Anteil des Staatshaushaltes ausmachen.
Die Rolle der Sicherheitsorgane scheint dabei nicht auf eine Überwachung und Verfolgung oppositioneller Kräfte beschränkt und auf die Verwendung des üblichen Arsenals an Unterdrückungswerkzeugen gegen jeden, den die herrschenden Eliten als Ausgangspunkt einer bereits vorhandenen oder in Zukunft möglichen Bedrohung ihrer Herrschaftsansprüche betrachten, sondern geht unstreitbar darüber hinaus.
Denn den Sicherheitsorganen geht es vor allem darum, ihrer eigenen Logik in Staat und Gesellschaft zu folgen – angefangen bei der Einschränkung der Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften und dem Aufzeigen roter Linien in Hinblick auf die Medien- und Pressefreiheit.
Ein weiteres Indiz wäre auch die Einflussnahme auf den Charakter des auf nationaler und lokaler Ebene zur Anwendung kommenden Wahlsystems – etwa in Form einer Zerstückelung der Wahlbezirke, und schließlich und endlich gar eine Modifizierung von Verfassungs- und Gesetzesartikeln, welche unmittelbar die politischen und zivilen Rechte regeln.
Heutzutage haben militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Institutionen das letzte Wort bei der Einflussnahme auf die Herrschaftseliten. Sie genießen eine Exekutivstellung, deren Wirken den aller anderen Exekutivorgane übersteigt, seien es Ministerien oder Fachbehörden. Zudem hat die Repräsentanz von Militärs und Sicherheitsvertretern in der staatlichen Bürokratie und deren Organen stark zugenommen.
Dies trifft insbesondere bei der Übertragung von Leitungsaufgaben in den Provinzen und auf lokaler Ebene zu. Und letztlich hat es der Führung der Sicherheits- und Nachrichtendienste ein engmaschiges und durchdringendes Netz beschert, das es zum einen den Bürgern erschwert, sich in organisierter Form dem autoritären Herrschaftssystem entgegenzustellen. Und zum anderen hat es den Herrschaftseliten die Möglichkeit eröffnet, dieses Netz zu nutzen, um entweder ihre autoritäre Herrschaft zu zementieren (wie zum Beispiel in Algerien) oder aber diese neu zu begründen, wie es in Ägypten nach 2013 der Fall war.
Der Marsch durch die Institutionen
Einer Analyse des Vordringens der militärischen, polizeilichen, geheimdienstlichen und sonstigen Sicherheitsorgane sollte ein zweiter Ansatz folgen, dessen Augenmerk auf einer Bestandsaufnahme der Konsequenzen liegt, die das Bestreben der herrschenden arabischen Eliten zeitigt. Also, die Folgen der Personifizierung und Konzentration ihrer Macht, um eine zahlenmäßig kleine Gruppe mit einheitlichen Interessen zu unterdrücken. In diesem Kontext geht es um all jene Machtkämpfe, wie sie mit Blick auf die jüngere Weltgeschichte in einigen Fällen zum Zusammenbruch von autoritären Herrschaftsmodellen geführt haben oder zum Katalysator demokratischer Veränderungen wurden, zumindest aber deren Anfänge begünstigen konnten.
Hinter der scheinbar pluralistischen Fassade einiger der herrschenden arabischen Eliten, lässt sich dort dennoch eine auffällige Konstanz ausmachen, was die Personalien derjenigen angeht, die tatsächlich mit der Machtausübung betraut sind, sowie deren permanente Rotation durch verschiedene Regierungsämter, was wiederum einer immer gleichen Logik folgt.
Während zum Beispiel für Jordanien gilt, dass die Besetzung eines Ministeramts oder eines wichtigen Postens in der Armee oder bei den Sicherheitsorganen nicht erfolgen kann, ohne dass hierbei die Namen einer sehr begrenzten Anzahl einflussreicher Familien fallen, werden die Schaltstellen der Macht in Algerien und Ägypten von den immer gleichen, bekannten Persönlichkeiten besetzt.
Dies lässt sich sowohl in der Legislative, Exekutive sowie in bestimmten Machtpositionenvon Regierungsparteien feststellen. Hierbei handelt es sich um Posten, die diese Politiker entweder niemals verlassen haben (wie etwa in Algerien) oder bei denen man (wie in Ägypten zum Beispiel) über Jahrzehnte hinweg die verschiedenen Stadien ihrer Rotation von einer Position zur nächsten verfolgen kann – entsprechend der Einschätzung, welche die Eliten zu den Umständen einer bestimmten Zeit haben, und gemäß persönlicher Verdienste.
Angst schüren vor Chaos und Anarchie
Der dritte Ansatz indes, den wir bemühen können, um die Beständigkeit autoritärer Herrschaft in den arabischen Staaten zu ergründen, dreht sich um das Interesse, das die herrschenden arabischen Eliten – ungeachtet der Tatsache, dass sie ihre Herrschaftslegitimation längst eingebüßt und sich als unfähig erwiesen haben, ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu entsprechen – auf offizielle Reden verwenden, um die zumeist wirtschaftlich darbenden Einwohner ihres Landes dazu zu bewegen, im Zweifelsfall ihre gescheiterten Regenten zu behalten und Forderungen nach einer demokratischen Veränderung abzulehnen.
Die Eliten beschäftigen hierfür ihre religiösen und medialen Institutionen, die jedoch unzweideutig durch die Regierung verwaltet werden und in ihrer täglichen Arbeit und Praxis durch diese dominiert sind. Dies geschieht in der Absicht, einen fortdauernden Wahrnehmungsmoment in der kollektiven Phantasie zu schaffen, wonach die Forderung nach Veränderung gleichbedeutend mit einer Bedrohung der allgemeinen Ordnung erscheint, das Land in den Abgrund eines gewaltigen Chaos zu stoßen.
Kein Zweifel, das die Überzeugungskraft solcher offiziellen "Angstmachen-vor-Veränderung-Reden" nicht losgelöst ist vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Nationalstaaten in Syrien, Libyen, dem Jemen und im Irak ist oder im Zusammenhang mit dem Scheitern der oppositionellen Kräfte in jenen Ländern steht. Dergestalt erweisen sich diese Kräfte als unfähig, eine programmatische Vorstellung von Veränderung zu entwickeln, die sowohl klare Umrisse hat, als auch den Bürgern mehr Zuversicht und politisches Vertrauen schenkt.
Amr Hamzawy
© Qantara.de 2017
Amr Hamzawy ist ein renommierter ägyptischer Publizist, Menschenrechtler und Politikwissenschaftler. Nach dem Sturz Mubaraks 2011 wurde er Vorsitzender der "Partei Freiheitliches Ägypten", das sich als Teil des oppositionellen Bündnisses "Die Revolution geht weiter" verstand. 2012 wurde Hamzawy als Abgeordneter des Kairoer Stadtteils Heliopolis ins Parlament gewählt. Er war ferner Mitglied des "Egyptian National Council for Human Rights".
Aus dem Arabischen von Markus Lemke