Die blockierte Demokratie
Die Türkei und Tunesien sind sehr verschiedene Länder, aber beide werden von einer islamistischen Regierung geführt. Bis zu einem gewissen Grad haben diese Regierungen ihre demokratischen Versprechen selbst ausgehöhlt, indem sie Bürger- und Menschenrechte nicht schützten und rüde Methoden gegen ihre Gegner anwandten. Denn die islamistischen Herrscher zeigten außer für den Sieg an der Wahlurne kein wirkliches Interesse am demokratischen Wandel.
Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi gerechtfertigt war, könnten auf eine Art Recht haben. Als die Herrschaft der Muslimbrüder autoritärer wurde, trampelten sie auf den Ideen und Hoffnungen der Revolution herum, die den damaligen Präsidenten Hosni Mubarak 2011 zu Fall brachten.
Nichtsdestotrotz war der Zuspruch, den der Militärputsch von vielen ägyptischen Liberalen erhielt, nur schwer zu verstehen. Viele Worte können nicht kaschieren, was tatsächlich passierte: Das Militär stürzte eine vom Volk gewählte Regierung.
Rückschlag für die demokratische Kultur
Einige glauben, dass eine militärische Intervention durchaus der politischen Kurskorrektur dient. US-Außenminister John Kerry sagte, dass das ägyptische Militär dadurch "die Demokratie wiederhergestellt" habe. Und der ehemalige amerikanische Botschafter James Jeffrey äußerte in Anlehnung an den Putsch in der Türkei im Jahr 1980, dass derartige Maßnahmen dazu beitragen, "die islamistische Bewegung zu mäßigen".
Die Vorstellung, dass sich ein transzendentaler und politisch unabhängiger Richter einschaltet, um Machtmissbrauch zu verhindern und Demokratie neu zu beleben, ist verlockend. Aber die türkische Geschichte straft sie Lügen. Es ist zwar erwiesen, dass das türkische Militär nicht daran interessiert war, das Land direkt zu regieren und die Verantwortung daher an die Bürger abgab. Dennoch warfen ihre politischen Interventionen die demokratische Kultur des Landes in ihrer Entwicklung stark zurück.
Letztendlich ist Demokratie auf eine unbedingte Interessenswahrung der rivalisierenden Akteure angewiesen, der sichert, dass die Rechte der anderen garantiert werden. Und ebenso, dass die Opposition die Wahl der Regierung anerkennt. Konstitutionelle Reformen alleine gewährleisten dieses Verhältnis nicht, denn die Mächtigen können sie einfach übergehen. Deshalb müssen erst Normen des politischen Verhaltens in den Institutionen, wie Parteien, Parlamenten und Gerichten definiert werden, um Machtmissbrauch zu verhindern.
Wenn diese Normen missachtet werden, zieht dies Konsequenzen nach sich, die letztlich allen schaden. Nach dem Motto: Wenn ich heute als Machthaber deine Rechte nicht schütze, dann wirst du, wenn du morgen an die Macht kommst, auch meine Rechte nicht respektieren.
Der Verlust der politischen Kontinuität
Wenn eine externe Gewalt wie die des Militärs das Spiel neu ordnet, verändert dies zwangsläufig die Dynamik des politischen Verhaltens. Der Verlust von politischer Kontinuität, parlamentarischen und rechtsstaatlichen Prozessen fördert eine kurzsichtige und autoritäre Regierungsführung. In jungen Demokratien taucht diese "Krankheit" häufig auf.
Für die türkische Demokratie ist sie bezeichnend. Als Premierminister Recep Tayyip Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 an die Macht kam, fehlte nicht nur eine demokratische Tradition im Land, sondern die Partei fürchtete auch eine Reaktion der säkular eingestellten alten Garde der Armee. Also ließ sie sich von ihrer Angst treiben und initiierte eine Reihe von Schauprozessen gegen hochrangige Militärbeamte. Als Erdogans Regierung schließlich die Unterstützung der Liberalen, die sie damals gewählt hatten, verlor, beschnitt sie die Meinungs- und Pressefreiheit.
Vor dem Hintergrund von Repression und eingeschränkter Demokratie, verrät uns das Scheitern der Islamisten in Ägypten und der Türkei relativ wenig über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Haben Mursi und Erdogan vor allem aufgrund ihrer religiösen Ideologie so gehandelt oder hätten die meisten Machtpolitiker nicht ganz ähnlich gehandelt, um an die Macht zu kommen? In Lateinamerika, wo der Islam bekanntlich keine politische Rolle spielt, mangelt es auch nicht an populistischen Politikern, die zivile und politische Freiheitsrechte immer wieder missachten.
Nichts dergleichen relativiert den Machtmissbrauch der islamistischen Führer. Wie das türkische Militär durch viele Interventionen gegen eine islamistische Bedrohung den demokratischen Wandel behinderte, so wird auch die Absetzung Mursis durch die Armee keiner Demokratie auf die Beine verhelfen.
Weder Autoritarismus noch streng hierarchische Strukturen können dem demokratischen Aufbau förderlich sein. Militärische Interventionen mögen im Falle eines unmittelbar drohenden Bürgerkriegs gerechtfertigt sein, sowie es in der Türkei der Fall war (und bestreitbar in Ägypten im Juli); aber man sollte nicht die Wiederherstellung von Ordnung mit der von Demokratie verwechseln.
Demokratische Länder – allen voran die USA und die Staaten der Europäischen Union – können autoritäre Praktiken entschieden verurteilen und der Versuchung widerstehen, mit regionalen Tyrannen zu sympathisieren, um daraus kurzfristige strategische Vorteile zu ziehen.
Kontraproduktiv ist die Wahrnehmung Außenstehender, die politische Krise in den nahöstlichen Gesellschaften als Ergebnis einer islamistisch-laizistischen Kluft zu sehen. Diese Perspektive kommt dem politischen Kalkül autoritärer Herrscher wie Erdogan sehr entgegen, die diese Polarisierung zu ihren Gunsten zu nutzen wissen, indem sie ihre politische Basis mobilisieren. Menschenrechtsverletzungen und rechtsstaatliche Verstöße sollten daher generell verurteilt werden, ohne sie an bestimmten kulturellen oder religiösen Umständen festzumachen.
Dani Rodrik
© Project Syndicate 2013
Dani Rodrik ist ein türkischer Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Sozialwissenschaften am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey.
Übersetzung aus dem Englischen von Juliane Metzker
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de