Vergeudete Talente

Obwohl palästinensische Frauen oft besser ausgebildet sind als Männer, sind ihre Arbeitschancen schlechter. Die Folge: Vor allem junge Akademikerinnen müssen Stellen annehmen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Viola Raheb

Von Viola Raheb

Dem "Arab Human Development Report 2005" der UN zufolge hat sich die Situation der Frauen in der arabischen Welt in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Beim Thema Frauen und Arbeit ist diese Veränderung aber nur begrenzt erfreulich. Zwar hatten die arabischen Länder zwischen 1990 und 2003 mit 19 Prozent den weltweit höchsten Anstieg des Frauenanteils an der wirtschaftlichen Aktivität.

Trotzdem erreichte die Beteiligung von Frauen insgesamt immer noch nur ein Drittel und war somit die niedrigste der Welt. Die arabische Welt mag ihr Image mit dem Anstieg des Frauenanteils vor der internationalen Gemeinschaft schön reden – in Wirklichkeit bleiben die Perspektiven für Frauen jedoch bescheiden.

Bereits bei der Bildung sind Frauen in vielen arabischen Ländern schlechter gestellt als Männer. Gewiss sind Frauen in den vergangenen Jahren enorme Schritte gegangen und haben es zu einem besseren Bildungsstand geschafft: Während 1990 die Alphabetisierungsrate unter erwachsenen Frauen nur 35 Prozent betrug, stieg sie im Jahr 2000 auf fast 50 Prozent. Im gleichen Zeitraum jedoch stieg auch die Alphabetisierungsrate bei Männern von 63,5 auf 71 Prozent.

Schlechte Chancen für gebildete Frauen

Diese Zahlen dokumentieren deutlich die Ungleichheit der Chancen von Mann und Frau in der arabischen Welt. Das Bildungssystem, der Arbeitsmarkt, die Gesetzgebung und die kulturellen Rahmenbedingungen für Frauen unterscheiden sich in den einzelnen arabischen Ländern jedoch enorm, wie das Beispiel Palästina verdeutlicht.

Die Frauen Palästinas sind gut ausgebildet, denn Bildung ist ein Weg zur Veränderung und wird unter Palästinensern als hohes Gut angesehen. An den palästinensischen Schulen waren im Schuljahr 2010/2011 die Hälfte aller Schüler Mädchen.

Während ihr Anteil in der Primarbildung bei 49,5 Prozent lag, erreichten sie im Sekundarbereich 54,2 Prozent. Die Statistiken aus dem Vorjahr zeigen, dass an den Universitäten sogar 57,2 Prozent der Studenten Frauen waren. Auch unter den palästinensischen Universitätsabsolventen sind Frauen eindeutig in der Mehrheit, mit rund 60 Prozent im Schuljahr 2008/2009.

Es wird deutlich, dass der Frauenanteil mit höherem Bildungsgrad steigt. Dies liegt im Universitätsbereich unter anderem daran, dass viele Männer zum Studieren ins Ausland gehen, während Frauen eher an Universitäten vor Ort bleiben.

Palästinensische Studentinnen an der Al-Quds-Universität im Westjordanland; Foto: AP
Beruflich Benachteiligung trotz Bildungsvorsprung: Völlig paradox erscheint, dass die Arbeitslosigkeit palästinensischer Frauen steigt, je höher ihr Bildungsgrad ist. Im Jahr 2010 betrug die Arbeitslosigkeit unter Frauen mit mehr als 13 Jahren Ausbildung 36,3 Prozent, während sie bei Frauen ohne jegliche Ausbildung bei nur 1,5 Prozent lag, schreibt Raheb.

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Bei der Wahl der Studienrichtungen gibt es jedoch einen klaren Unterschied zwischen Männern und Frauen. Obwohl die palästinensischen Frauen in den letzten Jahren enorme Fortschritte im Hinblick auf ihren Bildungsgrad gemacht haben, entscheiden sie sich weiterhin eher für die traditionell weiblichen Studienrichtungen wie Pädagogik oder Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese geschlechtsspezifische Fächeraufteilung beginnt bereits in der Sekundarstufe.

In der Entwicklungszusammenarbeit wird oft von der ökonomischen Bedeutung der Bildung für Frauen gesprochen. Für Palästina trifft dies nicht unbedingt zu: Obwohl Frauen in Schule und Universität besser abschneiden, ist der Anteil der erwerbstätigen Männer in Palästina viermal so hoch wie der von Frauen. Insgesamt waren 2010 in den palästinensischen Gebieten 41 Prozent der über 15-Jährigen erwerbstätig, 67 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen.

Durch Bildung beziehungsweise Ausbildung verschlechtern Frauen ihre Arbeitschancen eher, als sie zu verbessern.

Das Zeugnis bleibt zuhause

Dies führt dazu, dass viele Akademikerinnen Arbeit annehmen, die nicht ihrer Qualifikation entspricht. Um zu überleben, heben einige Universitätsabsolventinnen im Gaza-Streifen inzwischen sogar Brunnen für die Landwirtschaft aus. Junge, talentierte Frauen lassen ihre Abschlüsse zuhause liegen und gehen in den frühen Morgenstunden auf die Felder zum Arbeiten. Sie haben erkannt, dass sie keine Chancen haben, als Akademikerinnen zu arbeiten, wohl aber als unqualifizierte Tagelöhnerinnen.

Schaffen es Frauen trotzdem, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein, arbeitet ein großer Teil von ihnen eher in traditionellen Frauenberufen: im Bildungsbereich (34,7 Prozent), in der Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei (20,5 Prozent) oder im Gesundheitswesen (9,4 Prozent). Doch auch in diesen Bereichen bekleiden sie eher die niedrigeren Positionen. Im Gesundheitswesen beispielsweise liegt der Prozentsatz der weiblichen Ärzte bei etwa 14 Prozent, während beim Pflegepersonal über die Hälfte Frauen sind.

Ungleichheiten gibt es auch beim Gehalt. Männer erhalten bei gleicher Qualifikation höhere Löhne als ihre Kolleginnen, sei es im Dienstleistungsbereich, im öffentlichen Sektor oder in der Wirtschaft. Dies ist, wie wir wissen, kein spezifisch arabisches oder palästinensisches Problem. In einem Land wie Palästina bedeutet dies jedoch, dass gerade von Frauen geführte Haushalte häufig unter Armut leiden.

Obwohl die Arbeitssituation palästinensischer Frauen alles andere als rosig ist, haben sie dennoch in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte erzielt. Mit ihrem Einsatz haben sie es geschafft, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. So garantiert das palästinensische Grundgesetz, das "Palestinian Basic Law", im Artikel 25 nun formell die Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Doch wie wir auch von anderen Ländern wissen, sehen Theorie und Praxis oft ganz unterschiedlich aus.

Elementare Hindernisse für Frauen auf dem Weg in die Arbeitswelt sind zudem kulturell bedingt. Nicht nur, dass die Gesellschaft die Arbeit von Frauen weiterhin eher als finanzielle Notwendigkeit ansieht, während die Mehrheit der Frauen in ihrer Arbeit Selbstverwirklichung sucht. Es gibt viele kulturelle Barrieren, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – sie sind subtil, tückisch und verschleiert.

Was es heißt, als Frau in Führungspositionen zu arbeiten...

Viola Raheb; Foto: &copy violaraheb.net
Viola Raheb arbeitet heute als Beraterin für Entwicklungszusammenarbeit und Erwachsenenbildung in Wien mit dem Schwerpunkt "Arabischer Raum". Sie wurde in Bethlehem, im Westjordanland, als Tochter einer christlich-palästinensischen Familie geboren.

​​Wie absurd diese Barrieren manchmal sein können, habe ich selbst erlebt: 1995 kehrte ich nach meinem Studium in Deutschland in meine Heimat zurück. In einer Zeit des politischen Aufbruchs wollte ich einen Beitrag zum Aufbau Palästinas leisten.

Ich habe sogar mein Promotionsstipendium abgegeben, weil ich davon überzeugt war, dass Palästina mich mehr braucht als ich einen Doktortitel. Ein Gefühl, das auch dadurch gestärkt wurde, dass mir schon vor meiner Rückkehr eine Stelle am Internationalen Begegnungszentrum Bethlehem als Leiterin der Abteilung für Erwachsenenbildung angeboten wurde.

Es war ein junges Zentrum mit nur zwei Mitarbeitern. Meine Kollegin hatte ebenfalls im Ausland studiert. Das Begegnungszentrum stellte gezielt junge, talentierte Menschen ein, insbesondere Frauen. Bis heute liegt der Frauenanteil selbst in den Führungspositionen viel höher als der der Männer. Es hat zudem viele Ausbildungsprogramme für Frauen entwickelt, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Für mich als junge Absolventin war die Stelle eine Chance, eigene Ideen umzusetzen und Verantwortung zu übernehmen. Schon bald vergrößerte sich das Zentrum, wir arbeiteten viel und oft bis nachts – nicht weil wir mussten, sondern weil wir das Zentrum als unser Zuhause verstanden.

Noch im gleichen Jahr wurde ich von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina gefragt, ob ich die neu geschaffene Stelle als stellvertretende Schulrätin übernehmen wolle. Obwohl ich das Zentrum nicht verlassen wollte, ermutigten die Kollegen mich, das Angebot anzunehmen, da es die Möglichkeit bot, Veränderungen im Bildungsbereich anzustoßen. Ende 1995 trat ich die Stelle an und blieb nebenberuflich für den Bereich Erwachsenenbildung im Begegnungszentrum zuständig.

Die neue Aufgabe brachte viele Herausforderungen mit sich. Als junge Frau, noch keine 26 Jahre alt, musste ich Unterrichtsbesuche und Inspektionen durchführen – auch bei Lehrerinnen, die mich selbst unterrichtet hatten. Bei meinem ersten Besuch an meiner ehemaligen Schule haben mich einige Lehrerinnen mit Skepsis betrachtet.

Die Spannung im Raum war zu spüren. Bis einer meiner damaligen Lehrer aufstand, etwa Ende 50, und sagte, dass er stolz darauf sei, dass eine seiner Schülerinnen es auf einen so hohen Posten geschafft habe. Er lud mich ein, die erste Inspektion bei ihm durchzuführen. Daraufhin fingen alle an zu klatschen und mir zu gratulieren. Diese Erfahrung blieb eine Ausnahme, wie ich später feststellen musste.

Drei Jahre später ging der Schulrat in Pension. Als seine Stellvertreterin war ich eine Kandidatin für seine Nachfolge. Eine heiße Debatte begann. Doch im Zentrum der Diskussionen standen nicht etwa meine Ausbildung, meine Arbeitserfahrung oder gar mein Alter, sondern vor allem mein Frausein. Die Stelle, die bis dahin nur von Männern bekleidet worden war, war im Begriff, zum ersten Mal an eine Frau übergeben zu werden, was die meisten nicht erfreute. Damals waren alle Schulleiter, für die ich zuständig geworden wäre, Männer.

Als einzige Frau unter Männern

Schließlich wurde ein so genannter Kompromiss vereinbart: Titel und Befugnisse der Stelle wurden deutlich heruntergeschraubt. So konnte man die Stelle einer Frau anbieten. Lange musste ich nicht überlegen, bis ich das Handtuch warf: Ich würde keine "kastrierte" Stelle annehmen. Ich kündigte und nahm meine Arbeit am Zentrum wieder voll auf.

Doch es gab keinen besser qualifizierten Kandidaten für die Stelle und so blieb sie für ein paar Monate unbesetzt. Nach langen Beratungen wurde ein neuer Kompromiss erreicht: Die Stelle wurde mir erneut angeboten, diesmal mit allen Befugnissen und Titel, jedoch ohne Dienstwagen. Diesen Kompromiss konnte ich annehmen.

Im Dezember 1998 wurde ich die erste und jüngste weibliche Schulrätin Palästinas. Ich musste an vielen offiziellen Feiern teilnehmen, meistens war ich die einzige Frau unter vielen Männern. Oft gab es danach Diskussionen und Kritik – nicht etwa wegen meiner pädagogischen Ansichten oder administrativen Fähigkeiten, sondern wegen meiner Kleidung. Nach ein paar offiziellen Anlässen besorgte ich mir eine neue Garderobe. Es ist erstaunlich, welchen Stellenwert Titel, Autos und Kleidung einnehmen, wenn es um Frauen geht.

So habe ich meinen Einstieg in die Berufswelt erlebt, und meine Geschichte ist kein Einzelfall. Viele der Hindernisse, die sich arabischen Frauen auf dem Arbeitsmarkt stellen, haben nicht etwa mit ihrem Bildungsgrad oder mit einem Mangel an Arbeitsstellen zu tun, sondern haben kulturelle Wurzeln, die viel schwieriger zu überwinden sind als alles andere.

Viola Raheb

© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de