"Der Garten Eden trocknet nicht aus"
Von der Wiege der Menschheit zum Scherbenhaufen der Weltpolitik: Wer sich von Deutschland und Europa aus über den Irak informiert, gerät in einen Strudel aus Krisen, Krieg und Superlativen. Sensationsgier und reißerische Überschriften sind nicht die Sache der Journalistin Birgit Svensson, und deshalb ist ihr gerade erschienenes Buch über ihre 15 Jahre im Irak so wichtig.
Gut, dessen Titel "Mörderische Freiheit" muss man erst einmal sacken lassen – er ist ein Bezug auf die "Operation Iraqi Freedom", mit der die USA im März 2003 ihren völkerrechtswidrigen Krieg begannen. Doch es ist wohltuend, mit welcher journalistischen Nüchternheit und zugleich großer Empathie Svensson die vielen verworrenen Entwicklungen nachzeichnet und sie mit Leben füllt.
Dann das ist es, was sie sucht: Das echte, das unverfälschte Leben der Irakerinnen und Iraker. Svensson ist keine Kriegsberichterstatterin – auch wenn es diesem Land nur um Kriege und Krisen zu gehen scheint.
Als der Tross an Journalisten, der wie sie im März 2003 ins Land kommt, nach dem Fall Bagdads und dem Sturz Saddam Husseins abzieht, bleibt sie. 15 Jahre lang, trotz Gefahren durch Entführungen, Terror und Krieg. Über diese Zeit ein Buch zu schreiben, war nicht ihre eigene Idee, sondern die des Verlags – "ausgerechnet ICH", schreibt Svensson im Epilog. Man möchte dem Verlag danken.
Schlüsselland für den Nahen und Mittleren Osten
"Der Irak ist das Schlüsselland für die Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens", schreibt Birgit Svensson gleich zu Beginn. In den folgenden Kapiteln gibt sie einen Überblick des Geschehens seit 2003. Meist chronologisch – nur ab und an muss man sich als Leser auf die Suche nach einer einordnenden Jahreszahl begeben.
Svensson dröselt die Kernprobleme des heutigen Irak auf: Da ist der Konfessionalismus, gegründet auf die Diktatur Saddam Husseins, der als Angehöriger der sunnitischen Minderheit über ein mehrheitlich schiitisches Volk herrschte. Zwar war die Konfession lange Jahrzehnte von keiner großen Bedeutung.
Doch die Amerikaner führten ab 2003 ein Proporzsystem ein, dass konfessionelle Gleichberechtigung sichern sollte. Klang gut auf dem Papier, sorgte aber dafür, dass religiöse Bruchlinien entstehen konnten, entlang derer sich Probleme etwa der politischen Repräsentanz und der Korruption entzündeten. "Plötzlich wusste ich, dass ich Schiitin bin", zitiert Svensson eine damalige Regierungsrätin.
Folgenschwere Fehlentscheidungen Paul Bremers
Als fatal entpuppte sich die Auflösung der irakischen Armee durch den US-Zivilverwalter Paul Bremer im September 2003. Auf einen Schlag verloren 450.000 Menschen ihre Arbeit. Die Waffen nahmen sie teils mit nach Hause – direkt danach formierte sich der Widerstand gegen die Besatzer. "Ich meine, dass man gar nicht so viele Fehler machen kann, wie die Amerikaner im Irak gemacht haben", schreibt Svensson.
Dann kam Abu Ghraib, der Folterskandal im schon zu Saddams Zeiten berüchtigten Gefängnis bei Bagdad. Die Bilder von gedemütigten Häftlingen gingen um die Welt, vor allem aber rasten sie durch alle Gesellschaftsschichten des Iraks. Svensson: "Dabei handelt es sich nicht um schlichte Unfälle, als welche die Fälle zunächst dargestellt werden, sondern um systematische Folter bis zum Tod. Das ist Mord".
Die Terroranschläge, Morde und Entführungen im ganzen Land verschärften sich in der Folge drastisch.
Für viele Probleme ist "der Westen" mitverantwortlich – Svensson nennt etwa das "Öl für Lebensmittel"-Programm, in dessen Zuge es nicht nur gegen die deutsche Firma Siemens weitreichende Korruptionsvorwürfe gab. Oder das US-Gefängnis Camp Bucca, laut Svensson die "Wiege des Terrors", weil es zur Kaderschmiede des sunnitischen IS und der schiitischen Haschd al-Shaabi wurde.
Für andere Probleme spielte Saddam Husseins Diktatur oder die Unfähigkeit und Vetternwirtschaft irakischer Politiker eine weitaus größere Rolle. Zentral ist auch, natürlich, das Öl. Erdöl und Erdgas machen den Irak zu einem der reichsten Länder der Welt – eigentlich. Allerdings war das Öl 2003 ein Hauptgrund für den Einmarsch der US-Armee und befördert heute die allgegenwärtige Korruption.
Jenseits des Politischen
Svensson ordnet diese Entwicklungen kenntnisreich ein. Doch es sind vor allem die persönlichen Erfahrungen, die das Buch lesenswert machen. "Je weiter man vom Ort des Geschehens entfernt ist, desto düsterer scheint die Realität. Dass wir abends in Bagdad ausgehen, Kulturveranstaltungen boomen, sogar der Jahre währende Ausnahmezustand aufgehoben wird und Betonblöcke abgebaut werden, glaubt fast keiner".
Auch die Schilderungen ihrer Lieblingsspeisen – das berühmte Fischgericht Masgouf und Gemar, eine steife Milchcreme mit Maismehl – tun angesichts der jahrelangen Schreckensmeldungen aus dem Irak gut. Denn sie ermöglichen einen Blick auf das Leben der Menschen, der oft fehlt.
Und auch wenn das zu Zeiten des IS-Terrors schon einmal anders war: Birgit Svensson hat große Hoffnungen für den Irak. Das liegt zum einen an der Jugend – mehr und mehr junge Leute überwinden die konfessionellen Spaltungen, was etwa an den "Sushi-Ehen" zwischen Sunniten und Schiiten sichtbar wird. Zum anderen liegt es an den Frauen: Etwa an Thikra Alwash, als Bagdader Bürgermeisterin das erste Oberhaupt einer arabischen Hauptstadt. Oder an Lyrikerinnen wie Amal Ibrahim, mit denen Svensson die Gedichtsammlung "Mit den Augen von Inana" herausgegeben hat.
Hier scheint er schließlich durch, der Himmel, von dem im Untertitel des Buchs die Rede ist. "Der Garten Eden trocknet nicht aus", sagt Raad, ein Bauer aus dem Marschgebieten im Süden des Irak. "Noch nicht!"
Christopher Resch
Birgit Svensson: "Mörderische Freiheit. 15 Jahre zwischen Himmel und Hölle im Irak", Herder-Verlag 2018, 237 Seiten, ISBN 978-3-451-38177-5