"Wenn nichts passiert, machen wir weiter!"
Er ist einer der ersten, die in Basra auf die Straßen gingen: Hussam ist 23 Jahre alt, trägt Jeans mit Löchern, wie sie junge Leute im Westen zuhauf tragen, raucht und sieht sehr übernächtigt aus. Seit Juli ist er mehr oder minder täglich unterwegs, um zu protestieren. Da die Metropole ganz im Süden des Irak noch immer Temperaturen bis fast 50 Grad Celsius misst, finden die Demonstrationen zumeist nach Einbruch der Dunkelheit statt.
Dann treffen sich Tausende junge Leute an unterschiedlichen Plätzen der Stadt und schreien ihre Forderungen heraus: "Wir wollen sauberes Wasser! Wir wollen Arbeit und genügend Strom! Schluss mit dem korrupten Regime! Iran barra, barra (raus, raus)!"
Die Proteste haben sich mittlerweile auf den gesamten Süden des Landes ausgeweitet. Auch in Bagdad ist die Welle inzwischen angekommen. Doch Basra bleibt die Hochburg, weil es hier besonders schlimm ist.
Basra ist derzeit in aller Munde im Irak. Teilweise mit Bewunderung, was dort vor sich geht, aber auch mit Abscheu und Angst. Es sind vornehmlich junge Männer wie Hussam und wenige Frauen, geschätzt 100 bis 200, die auf die Straße gehen und gegen das kontaminierte Wasser demonstrieren, das schon Tausende in die Krankenhäuser gebracht hat. Ihre Proteste richten sich gegen die unzureichende Versorgung mit Elektrizität, gegen Korruption und gegen die Perspektivlosigkeit der irakischen Jugend. Denn die Mehrheit der 33 Millionen Iraker ist unter 25 Jahre alt. Doch sie haben keine Chance in einem Land, das wie kein anderes von Kriegen, Embargo und Terror heimgesucht wurde.
Die Alten sitzen an den Hebeln der Macht, an den Fleischtöpfen der Nation. Sie wurden von den Amerikanern 2003 nach dem Sturz Saddam Husseins aus dem Exil geholt, in politische Positionen gehievt und sitzen dort auch nach 15 Jahren noch. Oder aber sie kamen aus dem Exil im Iran – Schiiten, die von Saddam verfolgt wurden – und setzten sich besonders im Süden Iraks fest, wo die Schiiten die Mehrheit der Einwohner stellen.
Reich und arm zugleich
Armes reiches Basra. Seit dem Blitzkrieg der Terrormiliz IS im Jahr 2014, als der "Islamische Staat" (Daesh) weite Teile im Norden Iraks unter seine Kontrolle brachte und Mossul zur Hauptstadt des grenzüberschreitenden Kalifats auf irakischer Seite wurde, wuchs die Einwohnerzahl Basras unaufhörlich. Basra ist jetzt mit fast drei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Iraks.
Weitgehend verschont von Terror und Gewalt, galt die Stadt als sicherer Hafen für viele Binnenflüchtlinge. Fast eine Million neuer Einwohner sind in den letzten Jahren dazugekommen. Doch die Infrastruktur wuchs nicht mit. Im Gegenteil: Die Stromversorgung hielt dem Zuwachs nicht stand, Energie musste aus dem Iran importiert werden. Im Juni stellte Teheran schließlich die Lieferungen ein, nachdem die Rechnungen nicht bezahlt wurden.
Basra blieb weiterhin vernachlässigt, wie schon zu Zeiten Saddam Husseins, als dieser sich an den aufständischen Schiiten rächte und die Stadt völlig verwahrlosen ließ. Nur sind es heutzutage die schiitischen Machthaber in Bagdad und Basra selbst, die nichts für die Stadt tun.
In den 15 Jahren seit dem Sturz des Diktators, sind gerade einmal zwei Brücken über den Shatt al-Arab – den Zusammenfluss von Euphrat und Tigris – und ein Krankenhaus gebaut worden. Abwasserseen verbreiten nach wie vor einen erbärmlichen Gestank, wenn man von Bagdad kommend in die Stadt einfährt, Müll türmt sich zu Bergen in den Stadtvierteln auf und die Straßen haben tiefe Schlaglöcher wie eh und je.
Gleichwohl ist Basra die reichste Stadt Iraks. Über zwei Millionen Fass Öl werden täglich von den Erdöl-Feldern um die Stadt herum gepumpt. Basra ernährt das ganze Land. Über 90 Prozent des irakischen Haushalts stammt aus Ölverkäufen.
"Teile der Protestbewegung bestehen aus enttäuschten Mitgliedern der 'Hashd'-Milizen", sagt Hussam, der für die Menschenrechtsorganisation Larsa und auch für Amnesty International arbeitet. Er war bereits 2015 an den Protesten beteiligt, als damals schon einmal die Bevölkerung für mehr Strom demonstrierte. "Die haben gegen 'Daesh' gekämpft. Viele sind dabei getötet worden."
Basra schickte die meisten Milizionäre der sogenannten "Hashd al-Shabi", der Volksmobilisierungsfront, in den Krieg gegen den IS, nachdem Tausende Soldaten der irakischen Armee desertiert waren und "Daesh" immer weitere Landstriche Iraks unter seine Kontrolle gebracht hatte. Als sie nach dem Ende des Kalifats im Dezember 2017 nach Hause zurückkamen, stellten sie fest, dass ihre Politiker sich die Taschen voll Geld gestopft hatten, was eigentlich dem Volk, also auch ihnen gehörte, anstatt die Lebenssituation der Menschen zu verbessern.
Transparency International listet den Irak inzwischen auf Platz 169 der korruptesten Länder von insgesamt 180 Staaten weltweit auf. Die Wut darüber bricht sich nun auf der Straße Bahn. Es ist ein Aufstand der Jungen gegen die alte politische Elite.
Macht kaputt, was euch kaputt macht
In Basra zerstören diese Jungen gerade das, was sie zerstört: Das Gebäude des Provinzrates geht in Flammen auf, ebenso der Gouverneurspalast und der staatliche TV-Sender Iraqia, der kaum über die Proteste berichtet und damit der Verharmlosung der Regierung in Bagdad Vorschub leistet. Doch als das iranische Generalkonsultat ebenfalls Feuer fängt und auch die amerikanische Vertretung gestürmt werden soll, sind die Unruhen nicht mehr zu kaschieren. Jetzt reden alle von der Misere in Basra.
"Wir haben jetzt nicht nur die Regierung in Bagdad gegen uns, sondern auch den Iran", sagt Hussams Freund Ibrahim, der ebenfalls für eine Menschenrechtsorganisation arbeitet, die sich Al Firdous nennt. "Sie werden uns töten", befürchtet er. Doch die Demonstranten bekommen nicht nur Kritik und Drohungen. Aus dem ganzen Land gibt es Solidaritätsbekundungen. "Wir bewundern euch", heißt es immer wieder in den sozialen Medien, "macht weiter so!"
Auch aus dem sunnitischen Norden Iraks gibt es zustimmende Kommentare. Der Protest scheint junge Sunniten und Schiiten zu einen. Während die Demonstrationen 2013 die sich benachteiligt fühlenden Sunniten gegen die schiitische Regierung in Bagdad auf die Straße trieb und den IS begünstigten, demonstrieren heute Schiiten gegen ihre schiitische politische Elite. Von einem Religionskonflikt kann also keine Rede mehr sein.
Muktada al-Sadr als Königsmacher
In Basra brennen nicht nur Regierungsgebäude, sondern auch Zentralen von schiitischen politischen Parteien, wie Premier Haidar al-Abadis "Dawa-Partei", und Büros von Schiitenmilizen wie der "Badr"-Organisation, die vom Iran unterstützt wird. Auffallend ist, dass keine Milizionäre des schiitischen Predigers Muktada al-Sadr auf den Straßen Basras zu sehen sind, die ansonsten große Teile der Stadt kontrollieren. Ihr Hauptquartier bleibt denn auch als einziges von Brandstiftung verschont.
Inzwischen hat der Iran die Stromlieferungen wieder aufgenommen, und Basra bekommt nun etwa 16 Stunden lang am Tag Elektrizität. Muktada al-Sadr, dessen Bürgerbündnis "Sa'irun" die Parlamentswahlen im Mai gewann, hat mittlerweile einen Kompromiss mit den Demonstranten in Basra ausgehandelt: 45 Tage sollten sie der Regierung und den politisch Verantwortlichen Zeit geben, um ihre Forderungen zu erfüllen und tragbare Konzepte zur Verbesserung der Situation in der Stadt vorzulegen.
Al-Sadr selbst nutzt die Situation politisch aus und übt Druck auf die 329 Abgeordneten aus, Kompromisse zu finden und zügig eine Regierung zu bilden. Dabei ist er zum uneingeschränkten Königsmacher avanciert. Ohne Muktada al-Sadr läuft in der irakischen Politik derzeit gar nichts. Sein erfolgreiches Krisenmanagement in Basra festigt seine Macht umso mehr.
Allerdings müssen den Worten auch Taten folgen. "Wenn nichts geschieht, machen wir weiter", sind sich Hussam und Ibrahim sicher und sprechen damit für die gesamte Jugendprotestbewegung: "Wir lassen jetzt nicht mehr locker."
Birgit Svensson
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