Schreiben zum Überleben
Ashti sitzt der voll verschleierten Haura gegenüber und kann die Aufgabe nicht lösen, die die Trainerin zum Kennenlernen gestellt hat. "Wie soll ich denn erraten, was sie gut findet, wenn ich ihr Gesicht nicht sehen kann?" 20 Frauen aus allen Regionen des Iraks haben sich in der Stadtbücherei in Basra eingefunden, um eine Woche lang zu schreiben: Araberinnen, Kurdinnen, Assyrerinnen, Schiitinnen, Sunnitinnen und Christinnen.
Was sie verbindet, ist die Faszination für Lyrik. Sie wollen Gedichte schreiben lernen oder ihre bereits erworbenen Kenntnisse perfektionieren. "Schreiben für das Leben" heißt das Motto des Lyrik-Seminars, das das Goethe-Institut im Irak zum ersten Mal organisiert. Doch es wird mehr als das.
Der Graben ist noch tiefer geworden
Als die Kurdinnen aus Suleimanija im südirakischen Basra ankommen, bringen sie die Vorurteile mit, die im Vielvölkerstaat Irak allgegenwärtig sind. Sie haben lange gezögert, die 800 Kilometer in den Süden zu reisen. Die politischen Spannungen zwischen den autonomen Kurdengebieten und dem Rest Iraks machen auch vor der Haustür ihrer Bewohner nicht Halt. Seitdem die Zentralregierung in Bagdad den Kurden den Geldhahn zugedreht hat und diese ihr Öl auf eigene Rechnung verkaufen, ist der Graben noch tiefer geworden. Zudem gilt der Süden Iraks als extrem konservativ, Kurdistan im Nordosten des Landes dagegen als fortschrittlich und modern.
"Im Süden laufen doch nur Pinguine herum", reflektiert eine der Kurdinnen bei der Ankunft in Basra die gängige Meinung. Sie habe ihren Minirock zu Hause gelassen. Wegen ihres schwarzen Umhangs, des ebenso schwarzen Schleiers und dem weißen Haarband darunter, werden die Frauen in Basra oft als Pinguine bezeichnet.
Lyrik-Land Irak
Zwischen Ashti aus Kurdistan und Haura aus Basra liegen Welten, so scheint es. Doch Gesichtsschleier sind auch in Basra selten. Haura ist eine Ausnahme. Die junge Araberin ist ihrerseits misstrauisch, will nicht erkannt werden, wenn sie sich mit fortschrittlichen Frauen aus Kurdistan, Bagdad und sogar Deutschland trifft. Es könnte ein schlechtes Licht auf sie werfen. Doch am nächsten Tag kommt Haura ohne Gesichtschleier, in buntem Kostüm und Kopftuch. Die Vorurteile halten nicht lange.
Der Irak ist ein Lyrik-Land. Hier werden so viele Gedichte geschrieben, wie sonst nirgends im Mittleren Osten. Große Poeten der Vergangenheit kommen aus dem Zweistromland. Abul Tayyeb al-Mutanabi oder die Dichter aus Tausendundeiner Nacht stehen für eine jahrhundertealte Lyrik-Tradition. Auch heute ist Dichtung im Irak populärer denn je. Es gehört zum guten Ton, Gedichte zu schreiben, sie drucken zu lassen und an Freunde und Bekannte zu verschenken. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Aber die Männer sind in der Überzahl. Die Poesie ist zum Ventil für Gefühle und Erfahrungen geworden, zur Therapie für Traumata und Depressionen, die die Iraker durch Kriege und Terror schwer belasten.
Eintauchen in eine andere Welt
"Hier fängt man nicht bei Null an", reflektiert Leila Chammaa die Arbeit mit den Frauen in Basra. Die Berlinerin mit libanesischen Wurzeln hat sich als Übersetzerin arabischer Poesie ins Deutsche einen Namen gemacht. Schreibwerkstätten wie diese in Basra haben sich daraus ergeben. Auf die Fragen zum Sinn der Dichtung habe sie präzise Antworten erhalten. Rhythmus, Pausierungen und Analysen von Gedichten seien den Frauen schon geläufig gewesen. Vergleiche zwischen alter und neuer arabischer Dichtung wurden mit Enthusiasmus durchgeführt. Einige hätten es geschafft, aus den Konventionen herauszutreten, seien wachgerüttelt worden. Enas aus Basra bezeichnet das Schreiben als ein Eintauchen in eine andere Welt.
Doch was noch viel wichtiger ist: Wer schlimme Episoden erzählerisch und lyrisch verarbeitet, empfindet weniger Schmerz. Das belegen Studien diverser Universitäten in Europa und den USA. Die Erzählung vermittelt und versöhnt. Wer erzählt, der überlebt.
"Frauen schreiben anders als Männer"
Für Frauen ist dies besonders wichtig, weil sie oft nur das Schreiben als Rückzugsmöglichkeit für sich selbst finden, um das Erlebte zu verarbeiten. Schreiben wird zur Privatsphäre, ist die einzige Chance, mit sich alleine zu sein, ab von Familie und Gesellschaft. Samarkand aus Bagdad bringt es auf den Punkt: "Frauen schreiben anders als Männer. Frauen schreiben von innen nach außen, während Männer von außen nach innen schreiben."
Obwohl sie dasselbe Schicksal erleiden, ist die Perspektive eine andere, werden persönliche Gefühle zum Ausgangspunkt und Fokus der Texte, und nicht, wie bei männlichen Schriftstellern, die äußere Misere. Liebe in den Zeiten des Terrors, Auseinandersetzungen mit Gewalt, Träumen und Ängsten: Die Texte zeigen, dass Frauen anders leiden, anders empfinden und sie vor allem noch andere Formen von Gewalt ertragen müssen. Es ist auch die Gewalt in der Familie, unter der Frauen oft leiden, und sich nicht entscheiden können, was schwerer wiegt.
Die Schere im Kopf
Es ist aber vor allem der gesellschaftliche Druck, der derzeit auf allen Frauen lastet. Die tiefe wirtschaftliche und politische Krise im Irak und der Krieg gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" lassen wenig Raum für die Belange der Frauen. Das Patriarchat verfestigt sich weiter, religiöse Autoritäten nutzen die Sicherheitslage zuweilen schamlos aus, um die Unterwürfigkeit der Frauen zu zementieren.
"Wir waren schon mal weiter", sagen die Teilnehmerinnen aus Kurdistan und ihre Kolleginnen aus Bagdad nicken zustimmend. "In Basra dominiert die Schere im Kopf", sagt Muntaha, eine der wenigen Dichterinnen im Süden, die sich nicht scheut, offen auszusprechen, was andere nur unter vorgehaltener Hand äußern oder sich gänzlich ins Private zurückziehen.
Zum Abschied fließen Tränen
Einst war Basra eine blühende Dichterstadt, wo alljährlich das Poesie-Festival "Merbed" stattfand, an dem auch viele Frauen teilnahmen. Heute schreiben viele Dichterinnen unter Pseudonym und haben Angst ihre Texte zu veröffentlichen, wenn sie gesellschaftskritische Inhalte behandeln.
Tränen fließen, als die Teilnehmerinnen der Schreibwerkstatt sich voneinander verabschieden. Ashti aus Kurdistan hat gründlich mit ihren Vorurteilen aufgeräumt, wie alle anderen auch. Man wolle ein Netzwerk gründen, um sich künftig gegenseitig zu unterstützen, ist das Fazit. "Nur gemeinsam können wir vorankommen", sagt Haura aus Basra. Unterdessen hat die Bundesregierung die Unterstützung für Frauenprojekte im Irak gestrichen. Organisationen, die seit Jahren mit Frauen im Irak arbeiten, erhielten in den letzten Tagen negative Bescheide auf ihre Anträge. Projekte mit Parlamentarierinnen aus Kurdistan und Bagdad sind ebenso abgelehnt worden, wie die Arbeit mit Jesidinnen, die aus IS-Gefangenschaft entkommen konnte. Auch die Schreibwerkstatt in Basra bekommt keine weitere Finanzierung.
Birgit Svensson
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