"Jilet Ayşe" redet Klartext
Mütter haben immer Recht. Diese Volksweisheit mag umstritten sein – doch sie hält sich hartnäckig, vermutlich, weil etwas an ihr dran ist. Zum Glück, wie man im Fall von İdil Baydar sagen muss.
Wir schreiben das Jahr 2011. İdil Baydar, 1975 in Celle geboren, arbeitet unter anderem am "Rütli" – der Gemeinschaftsschule im Berliner Stadtteil Neukölln, die als Brennpunkt mit Gewalt und Sprachproblemen bundesweit zweifelhafte Bekanntheit erlangt hatte.
Doch İdil Baydar erkennt ein Riesenpotential im rauen Umgangston an der Schule. "Wir selbst haben in unserer Jugend nur berlinert. Die Sprache an der Rütli-Schule mit "isch schwöre" und ähnlichen Ausdrücken, war mir aber neu. Ich fand das faszinierend, wie viele unterschiedliche Kulturen an der Schule zusammenkommen und wie Wörter aus verschiedenen Sprachen gemischt werden." Sie erzählt ihren Freundinnen, "wie genial das ist." Ihre Mutter bekommt Wind davon und ist überzeugt: Diese Sprache trifft den Nerv der Zeit und muss ins Netz.
Mehr, um ihre Mutter abzuwimmeln, sagt Baydar, habe sie sich gefügt. Nach ein, zwei Klicks und einem kleinen Würdeverlust ist die Sache zu Ende, dachte sie. Doch das Youtube-Video sollte erst der Anfang ein. Es wurde wie alle folgenden Videos tausendfach angeklickt. Das war die Geburtsstunde der Kunstfigur Jilet Ayşe, einer 18-jährigen Kreuzberger Hauptschülerin, die vulgär und in Rotzgören-Manier über ihren Alltag wettert: über die Deutschen, ihren überangepassten Cousin Adem, das Jobcenter, das Grundgesetz. Dabei lässt sie kein Migranten-Klischee aus, um es so weit auf die Spitze zu treiben, bis sich der Zuschauer – Hand aufs Herz – dabei ertappt, selbst in dem ein oder anderen Muster zu denken.
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Jilet Ayşe lehrt sie Mut und Ehrlichkeit
"Die Figur Jilet Ayşe ist aus einer Naivität heraus entstanden und das war auch gut so", beschreibt Baydar den Beginn ihrer, wie sie sagt, wichtigsten persönlichen Reise und ihrer Begegnung mit der "Lehrerin ihres Lebens".
Direkt und unerschrocken, habe ihr die im Sonnenstudio gebräunte, mit etlichen Goldketten und Handys ausgestattete Hauptschülerin Ayşe viel beigebracht. Jilet Ayşe habe sie Mut und Ehrlichkeit gelehrt und gezeigt, wie man Dinge schätzen kann, die andere, aber auch sie selbst, abwerten. "Mit Jilet Ayşe konnte ich diese Dinge wirklich verhandeln und so etwas wie einen Heilungsprozess einleiten", so Baydar.
Für ihre Comedy – später kommt die Figur der Berliner Nazi-Oma Gerda Grischke dazu – wurde İdil Baydar mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. "Wir halten uns ja für so aufgeklärt und wissenschaftlich, deswegen versachlichen wir gerne emotionale Prozesse", erklärt sie. "Jilet Ayşe durchbricht dieses Muster. Sie hat eine Sprache gefunden, um Erfahrungen zu beschreiben, die viele Menschen in ähnlicher Weise gemacht haben." Sie biete einen Raum, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte untereinander in einen Austausch treten könnten. "Aus einzelnen Erlebnissen wird dann eine Kollektiverfahrung. Zum Beispiel, wenn Jilet Ayşe sagt: 'Ihr steckt uns strukturell in Hauptschulen, egal wie unsere Noten sind'."
"Wir übernehmen unsere eigene Deutungshoheit"
Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund sind in diesem Land keine Einzelfälle. Diese Erkenntnis will Baydar Zuschauern mit ihrer gesellschaftskritischen Kunst auf unterhaltsame Weise näherbringen. Und sie möchte sowohl Menschen mit und ohne Migrationshintergrund die Möglichkeit geben, miteinander in einen Austausch zu kommen.
Denn meist spreche die Mehrheitsgesellschaft nicht mit, sondern über Migranten. Baydar will die migrantische Szene stärken, damit sie sich ihrer selbst bewusster werden kann. Gleichzeitig will sie der Mehrheitsgesellschaft signalisieren: "Ihr gestaltet uns nicht. Wir übernehmen unsere eigene Deutungshoheit." Doch auch Menschen ohne Migrationsgeschichte sollten sich verändern, fordert sie. Sie möchte sie darin bestärken, "sich klar gegen faschistische Narrative zu positionieren." Sie sollten nicht mehr in alte Mechanismen verfallen und Stereotype wie die des kriminellen Ausländers bedienen.
Wie ihre Figuren, so polarisiert auch Baydar selbst. Zum Beispiel mit ihrer Kritik an der Polizei, die sie in TV-Talkshows geäußert hat. Erst wenn die Polizei ihre rassistischen Strukturen erkenne und diese bekämpfe, könne sie dieser wieder Vertrauen, sagte sie. "Wenn die Polizei es schafft, zu einer neuen Integrität zu finden. Wenn sie sagen würde, wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes und lassen es zu, uns von unabhängigen Stellen prüfen zu lassen, ohne das als Einmischung von außen zu verstehen, dann wären wir auf einem guten Weg." Um dieses Ziel zu erreichen, würde sie auch mit der Polizei zusammenarbeiten.
Baydar zeichnet sich – wie ihre Figuren – trotz aller hart formulierten Kritik durch einen versöhnlichen Ton und Optimismus aus. Deutschland, denkt sie, hat das Potenzial, der Welt etwas Neues anzubieten. "Deutschland kann Vorreiter für ein neues globales Bewusstsein werden, wenn Rassismus und Rechtssein rigoros unterbinden und ein Konzept entwickeln, um faschistische Strömungen in Räume abzudrängen, in denen sie nicht schaden. Das kann funktionieren, wenn wir kollektiv die Einheit des Menschseins manifestieren und tatsächlich das Grundgesetz umsetzen."
Und auch Jilet Ayşe ist trotz allem Gefluche und Gezeter im Grunde ihres Herzens "Liebe pur", sagt Baydar. "Aber ihre neue Ehrlichkeit", sagt sie, "die schätzen auch Deutsche."
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