Für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung
Alles begann mit einem Buch. Genauer: Mit Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab". 2010 erschienen, ist es eines der meistverkauften Sachbücher seit der Gründung der Bundesrepublik. Ganz Deutschland diskutiert über die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators zum angeblichen Zerfall der Gesellschaft durch Zuwanderung aus muslimischen Ländern.
Farhad Dilmaghani erinnert sich: "Sarrazins Buch war ein Dammbruch. In der Mitte der Gesellschaft wurde bei den Diskussionen über das Buch ein Rassismus sichtbar, der vorher auch schon da war, aber nun salonfähig wurde." Seine Reaktion folgte auf dem Fuß. "Uns war klar, da weht ein Geist, dem wir uns entgegenstellen müssen. Wir wollen Verantwortung für dieses Land übernehmen. Deutschland ist auch unser Land. Wir sind hier geboren und aufgewachsen. Wir fühlen uns hier wohl. Deswegen müssen wir diesem Rassismus politisch entgegentreten."
Jeder Mensch hat viele Identitäten
2011 gründete Dilmaghani zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, dem Regisseur Züli Aladağ und dem Architekten Van Bo Le-Mentzel den Verein "DeutschPlus. Initiative für eine plurale Republik". Rund 400 Förderer und Unterstützer aus ganz Deutschland gehören heute zum erweiterten Kreis des Vereins.
Der Name, erzählt er, entstand beim Brainstorming in einem Gartenlokal. Der Ausdruck "Plus" stehe für die Vielfalt an Identitätsanteilen eines Menschen. Es sind nicht nur die kulturellen Wurzeln, die einen Menschen ausmachen, sondern jede Persönlichkeit besteht aus vielen weiteren Aspekten. Dilmaghani selbst etwa ist nicht nur iranischer Abstammung und betreibt Advocacy-Arbeit, Nachwuchsförderung und Mentoring für DeutschPlus, er ist auch Mann, Schachspieler und Hobbyfotograf.
"Alle Gründerinnen und Gründer von DeutschPlus hatten sich damals schon Positionen in Kultur, Wissenschaft oder Politik erkämpft, aber wir wollten unser Wissen an die nächsten Generationen weitergeben. Wir wollten anderen zeigen, wie man sich in diesen politischen und sozialen Kontexten bewegt." Eine Hauptaufgabe des Vereins ist es daher, Organisationen oder Behörden darin zu unterstützen, mehr Diversität zu entwickeln. Bisher spiegeln sie die Vielfalt in der Gesellschaft noch nicht angemessen wider. Das soll sich ändern.Für eine Gesellschaft ohne Rassismus
Auch persönlich hat er Erfahrungen mit Diskriminierung machen müssen. "Es gab immer wieder Momente, in denen ich mit Mikroaggression auf der rassistischen Ebene konfrontiert wurde. Das war für mich sicherlich auch ein Antrieb dafür, mich für eine bessere Welt einzusetzen, in der Rassismus irgendwann keine Rolle mehr spielt", so Dilmaghani, der 1971 in Groß-Gerau als Sohn iranischer Eltern geboren wurde.
Er studiert an der Universität Frankfurt Politik, Philosophie und Volkswirtschaft, schließt mit Auszeichnung ab und gewinnt Berufserfahrung als Pressesprecher im Bereich Corporate Responsability bei der Allianz Versicherungsgruppe und als Grundsatzreferent im Bundeskanzleramt. Schließlich wird er als erste Person mit sichtbarer Migrationsgeschichte Staatssekretär für Arbeit und Integration beim Land Berlin.
Seit 2014 arbeitet er für das gemeinnützige Analyse- und Beratungshaus Phineo als Vorstandsbevollmächtigter für den öffentlichen Sektor in Berlin. Er fühle sich genau richtig an der Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, sagt er.
"Vielfalt der Gesellschaft bildet sich nicht in Institutionen ab"
Doch der in der Gesellschaft vorhandene Rassismus verlangt nach mehr Aufklärungsarbeit, mehr politischer Bildung und Sensibilisierung. Besonders stark ist Rassismus dort, wo wie im Osten Deutschlands die Infrastruktur im Zuge der Wiedervereinigung stark abgebaut wurde. "In der Mehrheitsgesellschaft gibt es zu wenig Wissen darum, was Rassismus überhaupt ist und wie er funktioniert," meint er. Wenn man Rassismus sage, würden viele Leute an Themen wie Nationalsozialismus und Konzentrationslager denken. Es fehle das Gespür dafür, dass Rassismus vorliegt, wenn Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft ungleich behandelt werden. "Es fehlt die Sensibilität dafür, dass wir es hierbei mit Diskriminierung zu tun haben."
Um neben dem Alltagsrassismus auch strukturellen Rassismus abzubauen, müsse sich beispielsweise "die DNA von Institutionen wie der Polizei weiterentwickeln und transparenter werden".
Um diese Probleme stärker ins Bewusstsein zu bringen, fordert Dilmaghani eine Änderung des Grundgesetzes. Das Bekenntnis zur Einwanderung müsse ins Grundgesetz, um eine offene Haltung zu diesem Thema auszudrücken. Große gesellschaftliche Trends müssten sich auch in den Institutionen widerspiegeln. Seine "Lieblingsforderung" ist daher die nach der Gründung eines "Ministeriums für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Anti-Diskriminierung, Migration und Integration".
Denn auch in der Vergangenheit, erklärt er, habe sich der gestiegene Stellenwert von Themen wie Frauenrechte, Umweltfragen oder Verbraucherschutz in veränderten oder neuen Ministerien niedergeschlagen. Der Zuschnitt der Ministerien sei immer auch Abbild der gesellschaftlichen Entwicklungen.
Nachhaltige Zukunftsvisionen
Doch Dilmaghani setzt sich nicht nur für einwanderungspolitische Themen ein. Ihn treibt Grundsätzlicheres an. "Wie wollen wir als Gesellschaft leben? Wie müssen sich Institutionen reformieren, um mit der Zeit zu gehen?" Das sind Fragen, denen er in Aufsätzen und Vorträgen nachgeht. Er möchte dazu beitragen, den Diskurs zu verändern und langfristige Prozesse anzuschieben, das motiviert ihn. Er freut sich über kleine politische Erfolge wie der Einrichtung eines Kabinettsausschusses "zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus" unter Vorsitz der Bundeskanzlerin im März 2020. Es motiviert ihn zu sehen, dass junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren ganz anders mit dem Thema umgehen.
Für die Zukunft wünscht er sich eine Welt, in der Wohlstand gerechter verteilt wird. Lebensqualität für alle, sagt er, müsse als zentrales handlungsleitendes Ziel im Zentrum stehen. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis 2030 böten dafür eine gute Grundlage. "Ich wünsche mir eine Gesellschaft ohne Diskriminierung mit Chancengleichheit für alle Bevölkerungsgruppen." Wir müssen lernen, dass uns als Menschen sehr viel mehr verbindet als uns trennt. Lösungen für Zukunftsfragen müssen wir gemeinsam finden.
Ceyda Nurtsch
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