Wechselspiel zwischen Konflikt und Kooperation
Alfred Schlicht, Orientalist und Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt, analysiert in seiner Studie das 2000 Jahre andauernde Verhältnis zwischen der arabischen Welt und Europa.
Er beginnt mit den ersten Kontakten in der Antike, fährt fort mit der Ausbreitung des Islams bis auf die spanische Halbinsel und konzentriert sich in seiner Analyse der Kreuzzüge neben den unvereinbaren religiösen Positionen auch auf europäisch-islamische Allianzen.
Besonderes Augenmerk legt Schlicht auf den Islam in Spanien. Seine Schilderung geht über die Stigmatisierung von islamischer Eroberung und anschließender Vertreibung durch die Reconquista hinaus und beleuchtet die dauerhaften Einflüsse der langen arabisch-muslimischen Herrschaft auf Spanien als eine Geschichte von Konflikt und Kulturaustausch.
Columbus: "Typische Gestalt des Gegensatzes"
So seien beispielsweise Christoph Columbus' Entdeckungsfahrten vom Islam inspiriert gewesen. Columbus sei, so Schlicht, zu einer "typischen Gestalt dieses jahrhundertealten welthistorischen Gegensatzes zwischen Orient und Okzident" geworden. Dies meint Schlicht jedoch nicht plakativ, indem er eine pseudo-islamophobe Geschichtsschreibung aus dem Dunstkreis von den terrorisitschen Anschlägen in New York, Madrid oder London heraus kreiert.
Stattdessen versucht er die Waage zu halten zwischen arabischen und europäischen Handlungsmotiven. Dabei handelt es sich ganz eindeutig um eine "historische Darstellung im engeren Sinn", wie Schlicht im Vorwort betont. Geistesgeschichte könne nur rudimentär berücksichtigt werden.
Darum erhält der Leser zwar einerseits einen fundierten und präzisen historischen Überblick über militärische und politische Geschehnisse, andererseits vermisst man jedoch eine stärkere Einbeziehung des Austauschs zwischen den intellektuellen Eliten.
Ägypten: Kein Fortschritt ohne Europa
Die weitere Entwicklung der arabischen Welt ist nach Ansicht von Schlicht ohne den Einfluss Europas nicht zu erklären: So wird für ihn der Aufstieg des Offiziers Muhammad Ali zum wichtigsten Mann Ägyptens nur durch den europäischen Einfluss verständlich. Alis Überzeugung, der Orient müsse vom Okzident lernen, versetzte ihn in die Lage, sich aus konventionellen Normen und Traditionen zu lösen und einen neuen Weg zu gehen, der Ägypten aus der osmanischen Kontrolle herausführte.
Schlicht meint, dass ohne den europäischen Einfluss der Aufstieg Ägyptens nicht möglich gewesen wäre. So hatte Europa erstmals "einem arabischen Land als Vorbild gedient, als Modell für Erneuerung und Überwindung von Rückständigkeit", schreibt er.
In der Folge widmet er sich dem Zeitalter des Kolonialismus. Obwohl der Kolonialismus oft mit Fremdherrschaft und Unterdrückung gleichgesetzt wird, schildert Schlicht die anfänglich positiven Auswirkungen: Die Integration in den Weltmarkt, wirtschaftlicher Aufschwung und kultureller Fortschritt.
Doch das ändert sich bald: Europa sieht die arabische Welt als Schauplatz eigener Interessen – nicht mehr als Partner. Denn: "Europa bedeutet für die arabische Welt Herausforderung und Verunsicherung, Gefahr und Chance, geistige Anregung und intellektuelle Provokation", so Schlicht.
Es folgt der Nahostkonflikt als stärkste Belastung der europäisch-arabischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Schlicht betont, dass der Nahostkonflikt keineswegs aus einem Religions- oder Glaubensstreit entstand, sondern aus einem territorialen Interessenskonflikt zwischen Palästinensern und Israelis.
In diesem Zusammenhang kritisiert er Deutschland: "Dass das Unrecht, das Deutsche Juden zugefügt hatten, nun dazu führte, dass den Palästinensern Unrecht geschah, konnte und wollte man nicht sehen. Die 'Opfer der Opfer' blendete man einfach aus." Mittlerweile, so Schlicht, habe sich die deutsche Außenpolitik "freigeschwommen" und kritisiere nun auch israelische Politik, ohne den moralischen Schatten der Nazi-Vergangenheit ständig zu spüren.
Reaktion auf europäisch-amerikanische Einflüsse
Die heutigen Beziehungen zwischen der arabischen Welt und Europa beschreibt er als eine Mischung aus Kooperation und Konfrontation. Schlicht bemerkt, dass Orient und Okzident heute bestimmt sind von Themen und Phänomenen wie interkultureller Dialog und Terrorismus, islamischer Fundamentalismus und die Suche nach der eigenen Identität: "Die Re-Islamisierung entwickelte sich als Reaktion auf europäisch-amerikanische Einflüsse und im Gegensatz zu ihnen", meint Schlicht.
Schlicht legt in seiner Studie dar, dass das Verhältnis zwischen Europäern und Arabern stets von einer Ambivalenz aus Kooperation und Misstrauen, Kriegen und Allianzen, Austausch und Ablehnung geprägt war. Dabei versucht er, keine retrospektive, eurozentristische Haltung der Stereotypen einzunehmen, sondern zu differenzieren, was bei dem zu behandelnden Zeitraum nicht immer gelingt.
Dennoch: Schlicht schafft es, mit klaren Thesen, einem klaren Aufbau und einer deutlichen Argumentationslinie ein Bild zu zeichnen, dass sich als so heterogen und vielfältig erweist, wie die historische Realität. Denn: "Islam und Christentum sind nicht nur Geschwister, sondern ein Zwillingspaar."
Sebastian Sons
© Qantara.de 2009
Alfred Schlicht: Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsame Geschichte. Kohlhammer Verlag 2008, 226 S.
Eine Vollversion der Rezension finden Sie auf der Homepage des Deutschen Orient-Instituts (DOI) www.deutsches-orient-institut.de und in der wissenschaftlichen Zeitschrift Orient I/2009 des DOI.
Qantara.de
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