Die Faszination gottgefälliger Ekstase
Frembgens Teilnahme an der Pilgerfahrt zum Schrein des "roten Sufi" Lal Schahbas Qalandar in der südpakistanischen Kleinstadt Sehwan zeigt einen Islam, der - wollte man ihn in westliche Vorstellungen übersetzen-, sein Äquivalent im rheinischen Karneval oder dem anarchischen Potential des Flower-Power findet, gleichwohl jedoch, wie im Westen nirgendwo mehr, von Aberglauben, Askese und Spiritualität geprägt ist.
Dionysisch, schreibt Frembgen an einer Stelle, sei dieses alljährliche Pilgerfest, und doch nicht in der Üppigkeit - die Armut, ob gewählt oder notgedrungen, ist überall unübersehbar - sondern in der Ausgelassenheit und scheinbaren Regellosigkeit des Treibens.
Ekstatische Tänze
Die dominierende spirituelle Tradition in Sehwan ist die Qalandaria der freien, ungebunden lebenden Wanderderwishe, die mit den Normen des orthodoxen Islam, der so viele negative Schlagzeilen macht, nichts mehr gemein haben. Ekstatische Tänze, permanenter Genuss von Rauschmitteln während des Festes, vor allem Haschischzubereitungen, die Anwesenheit von Tänzerinnen oder Prostituierten und zumal die sich gezielt zur Schau stellenden so genannten Hidschras, die Kaste der Hermaphroditen, Transsexuellen und Transvestiten, verwischen auf archaische Weise jede von Religionsgelehrten gezogene Grenze. Frembgen, mit der pakistanischen Sufi-Tradition seit fast 30 Jahren intensiv vertraut, ist ein sensibler, teilnehmender Beobachter.
Alles Journalistische ist ihm und seinem Bericht ebenso fremd wie wissenschaftliche oder theoretische Sterilität, und daher verwandelt sich seine ethnographische Erkundung im Laufe des Buchs in wirkliche Literatur. Es gelingt Frembgen, die Leser mitten hinein in das ekstatische Geschehen zu versetzen und sie das Gedränge, die aufdringlichen Gerüche, die Müdigkeit, Ergriffenheit und Verwirrung des sich keiner dieser Erfahrungen verschließenden Fremden erleben zu lassen.
"Ganz Sehwan scheint zu vibrieren, ist erfüllt von Rausch, Erregung und überströmender Emotion, ein orgiastischer Reigen von Körpern in Bewegung, Farben, Klängen. Die Arena um uns herum pulsiert – wahrlich kein Ort kontemplativer Spiritualität, vielmehr ein Platz der Ausgelassenheit, die sich mitunter bis zur Raserei steigert. Mehr als hundert Frauen und Männer im Geviert des Hofes in ekstatischem Tanz, dazwischen Malangs, die ihre brennenden Haschischpfeife wie eine Huldigung an den Qalandar in die Höhe strecken."
Alltägliche Schwierigkeiten
Authentisch wirkt Frembgens Bericht auch deshalb, weil ihm nichts zu trivial oder unwichtig erscheint, um aufgeschrieben zu werden: die Schwierigkeit, in dem riesigen, improvisierten Freiluftlager einzuschlafen, wie man in den provisorisch gezimmerten Zellen seinen Stuhlgang verrichtet, überbordende Müdigkeit und Hochgefühle, die Todesangst inmitten hysterisch drängender Menschenmassen.
Das Erhabene und das Abstoßende, Unverständliche bleiben als gleichberechtigte Erfahrungen nebeneinander stehen, Frembgen lässt sich ein, ohne zu urteilen. Seine Fragen richten sich schließlich nicht nur an die Kultur, die er beobachtet, sondern ebenso zurück an die eigene. Denn eine fremdere und zugleich faszinierendere Welt inmitten der medial doch scheinbar erschlossenen ist kaum vorstellbar, und wenn man das Buch zuschlägt, ist man beglückt, bereichert und auch ein bisschen neidisch auf die den Alltagsverstand weit hinter sich lassenden Erlebnisse dieses noch viel zu wenig bekannten deutschen Ethnologen und Verwandlungskünstlers.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2009
Jürgen Wasim Frembgen: Am Schrein des roten Sufi. Fünf Tage und Nächte auf Pilgerfahrt in Pakistan. Waldgut Verlag, Frauenfeld 2009, 166 S.