Rumi: Zuflucht der Iraner
Einmal in Schiras, als sich die Blechlawine im Abendverkehr zu einem Stau verdichtete, begann mein Taxifahrer plötzlich, Gedichte aufzusagen. Ein Ghasel (zwei Verszeilen, Anm. der Red.) nach dem anderen sprudelten die Verse von Hafis nur so aus ihm heraus. Der reimende Singsang erfüllte das ganze Auto und berührte etwas tief in mir, auch wenn ich noch kein Wort davon verstand. Damals, als ich während meines Persisch-Studiums der Stadt der Dichter und schönen Künste einen Besuch abstattete, erhielt ich einen Einblick in das innige Verhältnis, welches Iraner bis heute zu ihren Dichtern pflegen.
Immer wieder von Neuem beeindruckt mich das intime Verhältnis, welches viele Iraner zu ihrer klassischen Dichtung pflegen. Poesie ist für sie kein museales Kulturgut, sondern mitten ins Leben eingebettet. Iraner denken und fühlen durch ihre Dichtung. Diese macht einen wichtigen Teil ihrer Identität aus – wer eine gute Zahl an Gedichten auswendig aufsagen kann, beweist damit sein Persersein.
Viele Iraner bekamen ihre ersten Gedichtverse bereits auf dem Schoß der Eltern und Großeltern ins Ohr rezitiert. So kommt es, dass selbst Angehörige von Schichten, die bei uns als "bildungsfern“ gelten würden, in den profansten Augenblicken des Alltags ihre geliebten Dichter zitieren.
Auch die Verse von Rumi, der auf Persisch unter seinem Ehrentitel “Molana” (unser Meister) bekannt ist, sind im Zitatenschatz der Iraner verankert. Das Persisch des Masnawi ist zwar in seinem Vokabular mitunter antiquiert, wird jedoch auch nach über acht Jahrhunderten weiterhin verstanden (wobei das Masnawi auch eine Vielzahl arabischer Verse enthält, sowie einige griechische und türkische).
Masnawi-Kommentar als Bestseller
An der Enqelab, der “Revolutionsstraße” im Herzen von Teheran, folgt ein Buchladen auf den nächsten. Studenten eilen auf der Suche nach Lehrbüchern umher, Bibliophile suchen nach Schätzen. Kinder verkaufen bunte Umschläge mit Hafis-Gedichten auf kleinen Zetteln an Passanten. Die Werke der Sufi-Dichter gehören zum festen Bestand jeder Buchhandlung.
Einer der Buchhändler berichtet mir, dass sich bei ihm ein sechsbändiger Masnawi-Kommentar als Bestseller verkaufe. Ein literarisches Kommentarwerk, das einen halben Meter des Bücherregals in Beschlag nimmt und andernorts wohl lediglich einer hochspezialisierten Leserschaft vorbehalten wäre, geht hier wie warme Semmeln über den Ladentisch! Wie lässt sich diese Popularität Rumis im heutigen Iran erklären?
Besonders in den Städten sind die meisten Menschen des ideologisierten Islam überdrüssig, wie er durch die iranische Politik beworben wird. Sie sehnen sich nach jener beseelten Spiritualität, die Rumi verkörpert. Rumis Dichtung ist ein Zufluchtsort in wirtschaftlich schweren Zeiten sowie ein Ruheanker im Alltagsstress und eine Pause von der modernen Informationsflut. Außerdem gibt es einen Trend in der iranischen Mittelschicht, alles, was im Westen Erfolg hat, für erstrebenswert zu halten. Ironischerweise lesen viele Iraner Rumi deshalb, weil er sich in den USA als Bestseller verkauft.
In manchen Landstrichen des Iran ist das Lesen des Masnawi seit Jahrhunderten ein Bestandteil der Volkskultur. Besonders gilt dies für die Region Chorasan, die sich vom Nordosten des Landes bis über die Grenzen in die Nachbarländer Afghanistan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan erstreckt. Über Jahrhunderte wurde Rumis großes Lehrwerk an den mystischen Schulen dieser Gegend studiert — besonders im afghanischen Herat, der 200 Kilometer östlich gelegenen alten Kulturhauptstadt der Region.
15 Masnawi-Lesezirkel bei 100 000 Einwohnern
Ganz besonders lässt sich das literarische und musikalische Erbe der Sufis noch in Torbat-e Dscham spüren. Torbat-e Dscham, benannt nach dem Grabmal eines Lokalheiligen, ist für seine dotar-Spieler bekannt, Virtuosen der zweisaitigen chorasanischen Langhalslaute.
Verteilt über diese 100 000-Einwohner-Stadt im hauptsächlich von Sunniten bewohnten Grenzgebiet zu Afghanistan gibt es ganze fünfzehn Masnawi-Lesezirkel, die sich unter den Einwohnern großer Beliebtheit erfreuen. Die Gruppen — manche davon Privatgruppen, andere in Schulen oder Bibliotheken — werden von Poesie-Experten und spirituellen Lehrern geleitet, die sich ihr Leben lang mit Rumis Gedankenwelt auseinandergesetzt haben. Einer von ihnen ist Haj Naser Jami, der seit Jahrzehnten die Tradition der Masnawichāni, des Masnawi-Lesens, weiterführt:
Haj Naser trägt einen mit Rauten gemusterten Pullunder über einem weißen perāhan tunban – eine kuriose Kleiderkombination aus West und Ost. Seine Mandelaugen, die ihn unverkennbar als Chorasani kennzeichnen, strahlen Herzenswärme aus. Haj Naser ist ein frommer Muslim, ein Mann mit feinem Umgang und kompromissloser Gastfreundschaft. Sein Charakter ist eine gelungene Mischung aus persischer Höflichkeit und afghanischer Demut. Auch wenn er in Torbat-e Dscham stadtbekannt ist, hält Haj Naser seine Gelehrsamkeit zurück, spricht ruhig und bedacht, lässt seinen Blick bescheiden gesenkt.
Seit 1991, meinem Geburtsjahr, leitet Haj Naser wöchentliche Rumi-Stunden in seiner Heimatstadt. In all diesen Jahren hat er das Masnawi zweimal von Anfang bis Ende unterrichtet. Ein Durchgang dauere etwa zehn bis zwölf Jahre, erklärt Haj Naser. Der dritte Durchgang sei nun fast beendet, inzwischen lese die Gruppe gerade im sechsten Buch.
Wie alle beseelten Werke ist das Masnawi ein Buch, das sich dem Rezipienten stückweise öffnet und, wie ein guter Wein, über die Jahre immer besser wird. Denn mit dem Menschen selbst reift auch das Verständnis für den Text, öffnen sich dem Leser immer tiefere Sinnebenen.
Haj Nasers Verhältnis zum Masnawi ist deshalb auch die Geschichte seiner eigenen Reifung. Alles begann mit einer Hausaufgabe in der Mittelstufe: „Damals bat uns mein Persischlehrer, eine Geschichte aus dem Masnawi auszuwählen und diese in einen Aufsatz umzuschreiben. Die Bücher waren zu jener Zeit noch nicht so leicht zugänglich wie heute. In meiner Klasse hatten nur zwei oder drei Schüler eine Masnawi-Ausgabe bei sich zuhause liegen.“
Doch der junge Naser hatte seinen Vater schon einmal vom Masnawi sprechen hören. Er wusste, dass dieser ein Exemplar in der kleinen Wandnische im Wohnzimmer aufbewahrte, dort, wo sich auch der Koran befand. Sein Vater, der in den späten Zwanzigerjahren in Herat islamische Theologie studiert hatte und hundert Jahre alt wurde, war der Imam des Freitagsgebets im Mausoleum von Sheikh Ahmad-e Dscham – das geistige Oberhaupt der Stadt. Manchmal pflegte er nach dem Morgengebet, wenn die erste Röte gerade am Himmel erschien, ein paar Verse aus dem Masnawi zu lesen. Manche davon merkte er sich, um sie hinterher in seinen Predigten zu zitieren.
“Nur der Koran durfte das Masnawi verdecken”
"Er passte genau auf, dass niemand ein anderes Buch auf das Masnawi legte. Nur der Koran durfte das Masnawi verdecken“, sagt Haj Naser. "So sehr hat er Rumis Werk in Ehren gehalten.“
Haj Naser steht auf und holt ein überdimensioniertes, an den Seiten zerfleddertes Buch hervor. "Dies ist das Masnawi meines Vaters. In meiner Jugend war das Buch etwas Geheimnisvolles für mich, es war wie versiegelt. Selbst heute fällt es mir noch schwer, daraus zu lesen“, sagt Haj Naser und deutet auf die winzig gedruckte Schrift – hier wurden alle sechs Bücher des Masnawi in einen Band gefasst.
Ich schlage eine Seite auf. Das Buch ist ein Steindruck mit vergilbtem Papier, fast jeder Millimeter mit kalligrafischen Buchstaben überzogen. Eingefasst in einem Rechteck befinden sich in der Mitte Rumis Verse, an den Rändern ein Textkommentar und an der Peripherie die handgeschriebenen Notizen von Haj Nasers Vater. Ehrfürchtig blättere ich um. In wie vielen Momenten diese Seiten wohl schon Führung und Inspiration geschenkt haben! Ich bemühe mich, ein paar Worte zu lesen, doch die kleine Schönschrift ist für mich kaum zu entziffern.
Als ich das schwere Buch in den Händen halte, zitiert Haj Naser einen Vers, mit dem Rumi sein Meisterwerk charakterisiert: Unser Masnawi ist ein Laden der Einheit. / Alles, was du außer dem Einen siehst, ist ein Götze.
"Im Außen begegnen uns ständig Widersprüche. Darum geht es auch in der Dialektik Hegels“, sagt Haj Naser. Schon oft habe ich iranische Gelehrte Parallelen zu deutschen Philosophen ziehen hören. "Gäbe es keine Gegenteile, so würde diese Schöpfung nicht bestehen. Aber in der Essenz existiert nur Liebe. Das Masnawi führt uns hinein in diese Einheit.“
"Den großen Meistern ging es darum, uns ihre spirituellen Erfahrungen zu vermitteln. Sie wollten andere dazu ermutigen, sich dieser Karawane anzuschließen, um in die Welt des Friedens und der Einheit einzutreten“, sagt Haj Naser. "Rumis Ziel war es nicht, Derwischkonvente zu errichten. Wie auch die Propheten ist er gekommen, um Öl zwischen die Räder des Lebens zu gießen, damit diese geschmeidig werden. Damit es im Leben weniger hakt.“
"Wir leben nur vorübergehend, sind wie Reisende in einem Gästehaus. Warum diese ein, zwei Stunden, die wir hier miteinander haben, im Streit verbringen? Wir sollten so leben, dass wir diese Welt ohne Enttäuschung und Kummer verlassen. Dies ist es, was uns die Mystiker lehren. Für den Mystiker sind Kummer und Freude ein und dasselbe. Sie existieren nur in unserer Perspektive“, fügt Haj Naser hinzu. "Soll ich dir noch etwas Tee eingießen?“
"Danke, eine Tasse genügt mir“, entgegne ich und fühle mich an ein berühmtes Gedicht aus dem Diwan-e Schams erinnert, in dem Rumi den Körper mit einem Gästehaus vergleicht, in das mal angenehme, gern gesehene Gäste einziehen – wie Freude und Hoffnung – und mal solche, die wir als unangenehm empfinden, etwa Kummer. (…)
Balsam in Zeiten der Verzweiflung
"Besonders in Zeiten, wo Verzweiflung und Frustration in der Gesellschaft zunehmen, wenden sich die Menschen der Mystik zu. So war es auch nach dem Überfall der Mongolen, die in Chorasan eintausend Jahre Zivilisation zerstört haben“, sagt Haj Naser.
Rumis Zeit war ähnlich wie die unsrige eine Phase des Umbruchs. Tatsächlich scheint die Stimmung unter den Iranern, denen ich auf der Straße begegne, in den letzten Jahren kontinuierlich in den Keller zu gehen. Die Wirtschaft strauchelt angesichts von Korruption und lähmenden amerikanischen Sanktionen, die Lebensmittelpreise steigen unaufhörlich, und die iranische Führung versucht, jeden Protest noch im Keim zu ersticken. Depression und Hoffnungslosigkeit in der Gesellschaft haben sich längst epidemisch verbreitet.
Und dennoch blüht es in Haj Nasers Vorgarten, als wir wieder vor die Tür treten, und die Vögel zwitschern. In der Natur geht alles seinen Gang, in vollendeter Harmonie und perfekter Resilienz. Der Frühling kündigt sich an.
"Sie haben einen schönen Garten“, sage ich Haj Naser zum Abschied, worauf dieser antwortet: "Es sind deine Augen, die schön sehen.“
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Die kursiven Textpassagen stammen aus dem Buch "Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022) von Marian Brehmer, einem spirituellen Reisebericht, der von Begegnungen mit Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei erzählt. Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik.