Auf der Suche nach einer anderen Moderne
Ende des 19. Jahrhunderts hatte Kairo um die 350.000 Einwohner. 1947 betrug die Bevölkerung von Groß-Kairo ungefähr 2,5 Millionen. Heute beherbergt die Metropolregion über 20 Millionen Menschen.
Ein Mehr an Menschen bedeutet nicht automatisch ein Mehr an architektonischen Leistungen, aber es bedeutet auf jeden Fall mehr Gebäude. Elshahed will in seinem Buch die Aufmerksamkeit nicht allein auf die schönsten oder merkwürdigsten Bauwerke des 20. Jahrhunderts lenken. Ihm geht es, wie Mercedes Volait in ihrem Vorwort schreibt, weniger darum, ikonische Gebäude zu rühmen, als zu zeigen, "dass Kairo eine genuin moderne Stadtlandschaft aufzuweisen hat, die eine Wert an sich besitzt."
So finden wir in Cairo Since 1900 nicht nur Fotos und Beschreibungen von einzigartigen Baudenkmälern in der Kairoer Innenstadt, in Heliopolis und Zamalek, sondern auch von Wohnungsbauprojekten aus den 1950er Jahren, etwa Nasr City oder die Arbeitersiedlung in Imbaba.
Kairos Moderne: variabel, hybrid, vor Ort gestaltet
Doch bevor Elshahed zu den 226 Bauwerken kommt, die den Kern seines Buches bilden, erklärt er, warum diese Periode der ägyptischen Architektur so oft ein Schattendasein führt. Global gesehen, konzentriert sich die Beschäftigung mit der Moderne – ganz gleich, ob in Bezug auf Architektur, bildende Kunst oder Literatur – häufig ausschließlich auf die Entwicklungen im Westen. Andere Formen der Moderne werden, wenn überhaupt, gewöhnlich als Derivate "aus zweiter Hand" oder als kolonial eingefärbte, von Westen initiierte Projekte behandelt.
Die architektonischen Neuheiten, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in Kairo entstanden, werden aber auch innerhalb Ägyptens wenig geschätzt. Es gibt, schreibt Elshahed, "keine staatlichen Behörden oder privaten Einrichtungen, die Bauwerke der Moderne aufspüren, archivieren, dokumentieren oder schützen". In den universitären Fachbereichen für Architektur wird die Periode entweder als Randphänomen behandelt oder gänzlich ausgespart. Architekturstudenten machen laut Elshahed ihre Examen, ohne auch nur ein Seminar über die Geschichte der modernen ägyptischen Architektur absolviert zu haben.
Mangel an Fachleuten
Warum ist dies von Bedeutung? Zum einen haben es ägyptische Architekten dadurch schwerer, sich an früheren Bauwerken zu orientieren, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und Erfolgsstrategien zu übernehmen. Außerdem hat es zur Folge, dass es zu wenige Fachleute gibt, die das Interesse und die Fähigkeit besitzen, Gebäude aus dem 20. Jahrhundert vor dem Verfall zu bewahren.
Wie an den 226 im Buch vorgestellten Bauwerken deutlich wird, die etwa 120 Jahre ägyptischer Architekturgeschichte repräsentieren, existiert in Kairo durchaus viel Bewahrenswertes. Auch wenn einige der Gebäude in Cairo Since 1900 von Europäern entworfen wurden, war "seit den 1930er Jahren die Moderne in Kairo nicht das Werk importierter Architekten oder Experten (…), sondern das Ergebnis einheimischer Kompetenz".
Die moderne Architektur in Kairo, wie Elshahed sie beschreibt, ist nicht auf eine spezielle Weltanschauung festgelegt. Ihr bestimmendes Merkmal ist eine aus verschiedenen Quellen schöpfende Vielfalt. Der Leser, der das kompakte 400-Seiten-Buch durchblättert, stößt auf eine Fülle von Stilen, die auf innovative Weise miteinander kombiniert wurden.
Da gibt es den verspielten "pseudo-islamischen" Heliopolis-Stil bei den von der Cairo Electric Railways and Heliopolis Oases Company im Jahr 1908 errichteten Bauten, daneben eine Mischung aus Elementen der fatimidischen und mamelukischen Zeit in dem von Mustafa Fahmi entworfenen Agouza Hospital, oder den wunderbaren "neo-islamischen Brutalismus" des Jameel Building an der American University in Cairo (AUC), das von Dar al-Handasah entworfen und 1989 vollendet wurde.
Blick in das "größte Verwaltungsgebäude des Nahen Ostens"
Das in einem klaren, einladenden Stil verfasste Buch ist für Architekten ebenso geeignet wie für Laien. Der Text beschränkt sich auf wenige hundert Worte pro Seite, und dennoch gelingt es Elshahed, ihn mit einer Fülle von Details über die Entstehung, Renovierung und Nutzung der einzelnen Gebäude anzureichern und auch die eine oder andere Anekdote über berühmte Hausbesitzer - etwa die bekannte Sängerin Umm Kulthum – einfließen zu lassen.
In Elshaheds Buch findet sich auch die vielleicht positivste Beschreibung des Mugamma-Gebäudes am Tahrir-Platz, die je zu Papier gebracht wurde; er nennt den Bau "das größte Verwaltungsgebäude des Nahen Ostens". Der Autor hilft uns, den Ärger über die berühmt-berüchtigte ägyptische Bürokratie zu vergessen und zu erkennen, was die Architekten Muhammad Kamal Ismael und Fahmy Momen mit ihren großen Luftschächten, dem Art Déco-Design und den "stark reduzierten, von der islamischen Baukunst inspirierten Elementen" beabsichtigt haben könnten.
Zwingend notwendig und mühsam
Die letzte umfassende schriftliche Bestandsaufnahme der ägyptischen Architektur im 20. Jahrhundert erschien vor über 30 Jahren. 1989 wurde sie von Tawfiq Abdel Gawad, Architekt und Mitherausgeber der wegweisenden ägyptischen Architekturzeitschrift Al Emara, zusammengestellt. Den aktuellen Zustand der Bauwerke zu erfassen war, laut Elshahed, ebenso zwingend notwendig wie mühsam.
Ein Teil der Dringlichkeit ergab sich aus dem Tempo, mit dem, ermutigt durch die aktuelle Gesetzeslage in Ägypten, Gebäude abgerissen werden. Bauwerke in Ägypten können, wenn sie hundert Jahre alt sind, unter Denkmalschutz gestellt werden. Doch dieser Status wird keineswegs als Ehre wahrgenommen, denn er schränkt die potenzielle Nutzung des Gebäudes deutlich ein. So ist "im Verborgenen ein lukrativer Geschäftszweig entstanden, der sich auf die unauffällige Beschädigung ansonsten baulich solider, schützenswerte Bauten spezialisiert hat". Die Methoden reichen von Einbringen von Säure ins Mauerwerk bis zur Überflutung der Fundamente.
Auch das Fotografieren der Gebäude stellte eine Herausforderung dar. Die Fotografen, die für Cairo Since 1900 engagiert wurden, sahen sich vor diverse Probleme gestellt: schlechte Beleuchtung, dichter Pflanzenbewuchs, abweisende Pförtner und störende Werbeaufschriften. Und sie mussten erkennen, dass "das Fotografieren auf ägyptischen Straßen ein riskantes Unterfangen geworden ist; in der angespannten Sicherheitslage macht sich jeder und jede verdächtig, der die Kamera auf Gebäude richtet, die nicht als touristische Sehenswürdigkeiten gelten".
Die Leser haben deshalb allen Grund, Elshaded und den Fotografen, deren Bilder in seinem Buch abgedruckt sind, dankbar zu sein. Wenn Bewohner, Architekten, Stadtplaner und andere ihrer großartigen Stadt gerecht werden sollen, brauchen sie genau die Vogelperspektive, die Cairo Since 1900 bietet.
Bedauerlicherweise ist das Buch vorläufig nur auf Englisch erhältlich. Wie im Fall von Mercedes Volaits Architectes et Architectures de l'Egypte moderne (1830-1950) sollten auch Elshaheds Erkenntnisse in anderen Sprachen zugänglich sein. Es bleibt zu hoffen, dass bald eine Übersetzung ins Arabische erscheinen wird.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff