„Ich will Kindern vermitteln, dass ihre Sprache schön ist“
Im Bibliomania-Verlag in Kairo erscheint ein besonderes Buch-Trio: drei zweisprachige Bilderbücher mit dem Titel „ABC’ ya Ajalan“ (ABC der Tiere) von Linguist und Übersetzer Marwan Sheikho, illustriert von Neirouz Houri. Die Titel sind reich bebilderte Wörterbücher für mehr als hundert weit verbreitete Tiere. Es gibt sie in drei verschiedenen Sprachpaaren: Kurdisch und Arabisch, Kurdisch und Englisch sowie Kurdisch und Deutsch. Weitere Sprachpaare sind in Vorbereitung.
Dieses Debut als Autor hatte sich Marwan nicht vorgestellt, als er 2006 an der Universität von Aleppo, Syrien, angenommen wurde. Damals, erzählt er, schrieb er Gedichte auf Arabisch und wollte englische Literatur studieren. Ein Teil seiner Familie war mit seiner Studienwahl nicht glücklich. Sie störten sich nicht an der Sprache an sich – Marwan war immerhin der siebte aus der Verwandtschaft, der sie studierte – es war vielmehr die scheinbar einzige Berufsperspektive mit diesem Abschluss: Englischlehrer an einer syrischen Schule.
Marwan hatte immer eine „große Liebe zu Sprachen“. Er sprach zu Hause Kurdisch, in der Schule Arabisch und brachte sich anhand einer zweisprachigen Bibel bei, Englisch zu lesen. Noch in der Schule fing er an, seine Liebeslyrik zu entwickeln. Über die langen und langweiligen politischen Reden, die Schüler:innen an weiterführenden Schulen in Aleppo auswendig lernen mussten, war er weniger glücklich. Marwan machte sie für sich interessanter, indem er sie aus dem Arabischen ins Englische übersetzte.
In dieser Zeit träumte Marwan davon, einen Masterabschluss in Übersetzung zu machen. 2011 war er gerade in einen entsprechenden Studiengang aufgenommen worden, als in ganz Syrien Massendemonstrationen begannen. Es folgten brutale Repression durch die Regierung und der Beginn des Bürgerkriegs, der bis heute andauert.
In der Anfangszeit des Krieges hatte Marwan vor, in Aleppo zu bleiben und sein Studium abzuschließen. Doch im Sommer 2012 wurde die Situation in der Stadt zunehmend aussichtslos. Als er im September seine Nichte verlor, traf er die schwierige Entscheidung, das Land zu verlassen.
Er erinnert sich: „Ich ging nach Istanbul, mit nur wenig Gepäck: Keine Bücher, nur mein Pass und Kopien meiner Abschlüsse und Zertifikate“. Nach einiger Zeit fand er in Istanbul einen guten Job als Englischlehrer an der Marmara-Universität. Er blieb zwei Jahre in der Türkei.
Die kurdische Sprache neu entdeckt
Bis zu seiner Flucht war Kurdisch für Marwan die Sprache, die er vor allem zu Hause mit seiner Familie sprach. Seine akademische Arbeit fand auf Arabisch oder Englisch statt. In Istanbul war er von Kurdisch sprechenden Geflüchteten umgeben und sah plötzlich einen neuen Grund, aus dem und ins Kurdische zu übersetzen. Er entschied sich, als Freiwilliger für die Geflüchteten zu übersetzen. „Das war der Funke“, sagt er.
2015 verließ Marwan Istanbul für ein neues Masterstudium in Deutschland. Dort arbeitete er, wie schon in Istanbul, als Übersetzer für kurdische Geflüchtete. Als er Jahre später sein Dissertationsthema wählen sollte, entschied er sich für die Entwicklung der kurdischen Sprache in Syrien und der Türkei. Das Thema bot ihm die Gelegenheit, die verschiedenen Elemente seiner Biographie zu verbinden: „mein Bachelorstudium, Übersetzung und meine Identität als Kurde“.
Der nächste Funke war die Geburt seines ersten Kindes. Schon bevor sein Sohn auf die Welt kam, wusste Marwan, dass er Kurdisch lernen würde. Schnell wurde ihm jedoch klar, dass er es nicht schaffen würde, ein natürliches Lernumfeld auf Kurdisch zu schaffen.
„2019 begann ich, Lernmaterial für meinen Sohn zu gestalten, weil es nicht viel kurdisches Material für Kinder gab“, erklärt er. „Dank ihm und meiner Tochter habe ich eine Begeisterung für Kinderliteratur entwickelt.“ Für Marwan ist es wichtig, dass seine Kinder stolz sind, auf ihre kurdische Identität und die Sprache. „Als ich ein Kind war, schämte ich mich für meine Identität“, sagt er. „Ich wurde zurechtgewiesen, wenn ich in der Schule Kurdisch sprach.“
Marwans Lernmaterialien hätten seine eigenen vier Wände vielleicht nie verlassen. Doch dann wurde 2020 während der Covid-19-Pandemie der Lockdown verhängt, viele Menschen saßen zu Hause und waren viel online. Marwan stellte die Plattform NasName: Our Language Is Our Identity (Unsere Sprache ist unsere Identität) online. Unter diesem Namen betreibt Marwan einen Podcast sowie aktive Instagram- und YouTube-Kanäle. Alles dreht sich um die kurdische Sprache.
Auf NasName erklärt Marwan die Herkunft geläufiger kurdischer Wörter, übersetzt kurdische Lieder und stellt kurdische Sprichwörter vor. Die Seite ist darüber hinaus eine Plattform, um die Nuancen der in verschiedenen Städten und Regionen gesprochenen kurdischen Dialekte zu entdecken und sie mit anderen zu teilen.
Zweisprachig Verbindungen schaffen
Während seine Kinder aufwuchsen, versuchte Marwan, an mehr kurdische Bilderbücher zu kommen. Von denen, die auf Kurmandschi – dem weit verbreitetsten kurdischen Dialekt – vorliegen, sind die wenigsten gut produziert oder auf das Alter der Zielgruppe ausgerichtet. Der deutsche Verlag Edition bi:libri produziert ebenfalls deutsch-kurdische Bücher, aber die meisten wurden aus europäischen Sprachen übersetzt. „Wir brauchen mehr Bücher für Kinder, die auf Kurdisch geschrieben werden“, sagt Marwan.
Zweisprachige Bücher sind extrem wichtig, so Marwan, denn sie erzählen nicht nur Geschichten – sie bieten Verbindungen an. Er erinnert sich daran, wie er gemeinsam mit seiner deutschen Frau und zwei Kindern auf dem Sofa saß, alle vier lasen in einem zweisprachigen Buch aus der lokalen Leihbücherei. Seine Frau begann auf Deutsch vorzulesen, er folgte mit derselben Idee auf Kurdisch. „Mein Ziel ist es, Kommunikation anzustoßen“, führt er aus, „lass uns zusammen lesen, lass uns zusammen durch die Geschichten gehen.“
Aktuell übersetzt Marwan ein arabisches Kinderbuch – الكناري الذي صار أسداً (Der Kanarienvogel, der ein Löwe wurde) – ins Kurmandschi. Während er als Autor und Übersetzer von Kinderliteratur immer besser wird, kristallisiert sich auch sein Ziel weiter heraus: „Ich würde in den nächsten fünf Jahren gerne zwanzig Bücher für Kinder veröffentlichen. Ich will Bücher schreiben, die Kinder respektieren, und ihnen vermitteln, dass ihre Sprache schön ist, dass ihre Identität schön ist und ihnen das Bedürfnis geben, sich mit dieser Identität zu beschäftigen.“
„Am Ende des Tages,“ fügt er hinzu, „möchte ich, dass Kurdisch eine lebendige Sprache ist.“
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