Bürgergesellschaft statt Konfessionalismus
Mit viel Sympathie und Bewunderung verfolgen die Menschen weltweit, wie eine arabische bürgerlich-demokratische Jugend-Bewegung voller Tapferkeit und Hingabe die korrupten, autoritären Regimes in Tunesien und Ägypten hinweggefegt hat.
Bemerkenswert an dieser größten Massenmobilisierung in der jüngsten Geschichte der arabischen Völker waren vor allem ihre Friedlichkeit und die beharrliche Geduld der meistens politisch unerfahrenen Demonstranten in Tunis und Kairo. Diese beeindruckende Hartnäckigkeit zwang Tunesiens Langzeitdespot Ben Ali zur Flucht ins saudische Exil, und nach 18 Tagen musste auch Ägyptens autoritärer, "ewiger Präsident" Hosni Mubarak abdanken.
In Ägypten, im nahöstlichen und geopolitisch wichtigen Ankerstaat und dem größten arabischen Land, gelang etwas Historisches: Mit Parolen wie "Das Volk will das Regime stürzen", "Keine Gewalt!", "Für Freiheit und soziale Gerechtigkeit", und "Die Religion ist für Gott, die Heimat ist für Alle" feierten die Menschen am Nil ihre Befreiung aus der Bevormundung staatlicher Repression – und legten damit die Grundlage für ein neues Ägypten und vielleicht auch für eine neue Weltordnung.
Erst die Verfassung und dann die Wahlen
Natürlich muss Ägyptens junge und heterogene Demokratiebewegung mit den Erblasten einer autoritären Herrschaft, die das Land in Elend und Armut geführt hat, zurechtkommen. Doch neben den ökonomischen Herausforderungen, insbesondere dem Kampf gegen Armut, Korruption, Vetternwirtschaft und die grassierende Arbeitslosigkeit in der postrevolutionären Phase, muss sie sich einer gesamtägyptischen Aufgabe widmen: Das Zusammenleben von Muslimen und Christen am Nil. Dies muss auf eine neue rechtstaatliche Grundlage gestellt werden, idealerweise in Form einer zivilen Verfassung, die von einer verfassungsgebenden Nationalversammlung unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppierungen und Kräfte formuliert wird.
Dies dürfte für die Zukunft Ägyptens von zentraler Bedeutung sein, da es sich hierbei um eine einmalige historische Chance handelt, unveränderbare Verfassungsnormen und den besonderen Schutz von Grundrechten aller Ägypter und Ägypterinnen festzuschreiben. Aus diesem Grunde kämpft die Demokratiebewegung zurzeit mit aller Macht dagegen, dass schon im Herbst dieses Jahres Parlamentswahlen - vor der Verabschiedung einer neuen Verfassung - stattfinden.
Auch der Friedensnobelpreisträger Mohammed El Baradei vertritt die Ansicht, dass die Parlamentswahlen erst nach der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung stattfinden sollten. Nach El Baradei soll das deutsche Grundgesetz als Modell dienen, weil es alle Grundrechte, wie die Meinungs- und die Religionsfreiheit, schützt: "Etwas Ähnliches würde ich auch für Ägypten begrüßen, damit alle zufrieden sind und niemand besorgt ist, dass das Land sich in die eine oder andere Richtung entwickelt."
Das alte Regime schürte konfessionelle Konflikte
Dieser überraschende Konsens innerhalb der jungen Demokratiebewegung über die Notwendigkeit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist in erster Linie als Ausdruck eines neuen Bewusstseins zu bewerten. Konkret bedeutet dies, dass die individuellen Rechte des Einzelnen, aber auch die "Rechte der Anderen" eine neue Wertschätzung erhalten: Dies ist als historischer Bruch mit den herrschenden ideologischen Narrativen im Mittleren Osten zu bewerten. Das ist insofern außergewöhnlich und zugleich verwunderlich, wenn man bedenkt, wie aufgeheizt die Stimmung im Lande nach dem tödlichen Anschlag auf eine koptische Kirche in der Sylvesternacht 2010/2011 war.
Inzwischen wissen wir, dass das Mubarak-Regime – wie übrigens alle arabischen Unrechtsregimes auch - nicht nur konfessionelle Konflikte, sondern auch übertriebene Ängste vor einer "Machtübernahme radikaler Islamisten" geschürt hat, um sich dem Westen als Stabilitätsgarant zu präsentieren.
Ein Höhepunkt dieser perfiden Strategie der Spaltung wurde erreicht als viele Indizien nach der Revolution des 25. Januar dafür sprachen, dass der blutige Anschlag auf die Kirchen in Alexandria nicht etwa von militanten Islamisten verübt wurde, sondern von einer Gruppe von Offizieren und ehemaligen islamistischen Radikalen, die das ägyptische Innenministerium selbst zusammengebracht hatte, um im ganzen Land Sabotageakte auszuführen.
Unvollendete Revolution
Die epochalen Umwälzungen in der arabischen Welt bieten eine historische Chance, das Zusammenleben von Muslimen und Christen auf neue, rechtstaatliche Grundlagen zu stellen, vor allem in Ägypten.
Mit dem Sturz des repressiven Mubarak-Regimes endete dort die Unterdrückung verschiedener politischer und religiöser Strömungen. Auch islamistische Akteure versuchen jetzt, am politischen Leben aktiv teilzuhaben. Vor allem die radikalen Salafisten nutzen die Schwäche des Staates und verbreiten Angst und Schrecken auf den Straßen Kairos. Sie sind auch für die jüngsten Gewaltakte gegen die Kirchen verantwortlich. Doch man sollte diese Ereignisse nicht überbewerten, da es sich hierbei um radikale Gruppen handelt, die durch die Bürgerrevolution in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt sind.
In der aktuellen historischen Phase steht für viele ägyptische Intellektuelle und Demokratie-Aktivisten vor allem der Ruf nach einer neuen Verfassung im Mittelpunkt dieser unvollendeten Revolution.
Wenn es gelingen sollte, das Verhältnis zwischen dem neuen, zivilen Herrschaftssystem und den Konfessionen Ägyptens so zu ordnen, dass der Geist des Tahrir-Platzes in alle Teile des Landes getragen wird, von dem Platz also, auf dem Christen und Muslime Seite an Seite für ein menschenwürdiges Leben friedlich demonstriert hatten, dann könnte diese großartige Kulturnation auf eine bessere Zukunft hoffen und eine neue Bedeutung in der Arabischen Welt gewinnen – als Heimat für alle Bürger und als modellhafter und moderner Rechtstaat.
Loay Mudhoon
© Loay Mudhoon 2011
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de