Kaleidoskop des Schmerzes
Herr McCann, wann haben Sie zum ersten Mal von Rami und Bassam gehört?
Colum McCann: Vor fünf Jahren bin ich mit den Nichtregierungsorganisationen „Narrative 4“ und „Telos“ nach Israel und Palästina gefahren. Wir waren eine große Gruppe von Künstlern und Aktivisten. Es war ein wilder Trip, aber wir haben es geschafft, die verschiedensten Menschen zu treffen: palästinensische Musiker, israelische Schriftsteller, Siedler, Soldaten, Künstler, Sicherheitsexperten.
Es war eine unglaubliche Reise mit einem brillant organisierten und sehr differenzierten Programm. Am vorletzten Abend sind wir nach Beit Jala außerhalb von Jerusalem gefahren und über eine wackelige Treppe in ein kleines Büro gestiegen. Dort warteten zwei Männer auf uns, die sich als Rami und Bassam vorstellten. Zwei ganz normale Männer an einem gewöhnlichen Ort.
Dann fingen sie an, über ihre Töchter Smadar und Abir zu sprechen, die beide im Konflikt ums Leben gekommen waren. Es fühlte sich an, als ob jedes Quäntchen Sauerstoff im Raum verbraucht wäre. Ich dachte, sie würden ihre Geschichte zum ersten Mal erzählen. Aber natürlich war dem nicht so: Sie hatten schon hunderte Male darüber berichtet. Ich war zutiefst gerührt und für immer verändert.
Wie haben Sie den beiden eröffnet, dass Sie ein Buch über ihr Leben schreiben möchten?
McCann: Ich habe es ihnen einfach erzählt und sie fanden es in Ordnung - sie sind die Aufmerksamkeit der Medien gewohnt. Dann habe ich ihnen erklärt, dass ich Schriftsteller bin und einen Roman über sie schreiben möchte. Sie meinten, dass ich schreiben könne, was ich will. Ihnen war wohl nicht ganz klar, was ich genau vorhabe, aber sie haben mir vertraut.
Zuerst hatte ich große Angst vor diesem Projekt. Ich bin Ire, ich lebe in New York, ich habe kaum Zeit im Nahen Osten verbracht. Wie kann ich dann als Autor die Essenz dieser beiden Schicksale und der Ereignisse im Nahen Osten allgemein verstehen und wiedergeben? Ich wollte eine Geschichte erzählen, die jeder verstehen kann, auch wenn man den Konflikt überhaupt nicht kennt.
Schreiben ohne zu bevormunden
Hatten Sie die Befürchtung, sich als „weißer Mann“ diese Geschichte kulturell anzueignen?
McCann: Das ist eine sehr gute Frage, mit der ich mich zurzeit intensiv beschäftige. Es gibt ja durchaus so etwas wie kulturelle Aneignung. Wir Schriftsteller und Künstler begeben uns oft an Orte, von denen wir uns fernhalten sollten. Wir sind herablassend. Wir bevormunden. Wir klauen. Wir verspotten. Wir nutzen aus. Wir denken nicht nach.
Wir erkennen andere Kulturen nicht an. Wir schauen nicht über unsere eigene Nasenspitze hinaus. Manchmal klopfen wir uns für vermeintlichen Mut auf die Schulter, der in Wahrheit nur Angeberei ist. Das alles ist nicht richtig. Wenn wir uns eine Kultur aneignen, dann verdient das jede Kritik. Viele Leute kritisieren das auch zurecht. Das alles ist mir nicht fremd.
Gleichzeitig sollten wir darüber sprechen, wie wir Kulturen wertschätzen, wenn wir von ihnen lernen, sie teilen, uns in sie vertiefen und sie in den Fokus rücken möchten. Das ist eine andere Geschichte, oder vielleicht ein Teil derselben Geschichte. Wenn wir mit Bescheidenheit an die Sache herangehen. Mit Demut. Wenn wir einer Sache nicht ganz gewachsen sind und die Wahrheit uns einiges zumutet, dann sind wir am Ende etwas weiser, tragen aber auch einige Wunden davon. So war es für mich bei der Arbeit an „Apeirogon“ (Bezeichnung für eine geometrische Form mit einer unendlichen Menge an Seiten, die die Vielzahl der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Konflikt symbolisieren soll, Anm. der Red.). Dass Rami und Bassam das Buch unterstützen, finde ich großartig.
Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Ich bin mit Ramis Motorrad gefahren. Ich bin mit Bassam durch Checkpoints gelaufen. Ich habe mit ihren Familien zu Abend gegessen. Sie haben mir Dinge erzählt, die sie bislang niemanden anvertraut haben. Ich wollte in ihre Köpfe und Herzen schauen, um den Grund für ihren Mut herauszufinden. Ich habe Rami und Bassam gefeiert - hoffentlich konnte ich das in meinem Roman rüberbringen.
Den Kern von „Apeirogon“ bilden die Morde an den beiden Mädchen Smadar und Abir und wie sie das Leben der Familien bis heute prägen. Schmerz und Verlust sind globale Themen und der Verlust eines Kindes ist eine besonders erschütternde Tragödie. Wie haben Sie das Thema literarisch verarbeitet?
McCann: Ich habe selber drei Kinder, aber Gott sei Dank keines verloren. Aber allein über dieses Thema zu schreiben, war unglaublich schwierig. Ich musste mich in die Lage von Rami und Bassam versetzen und eine Sprache für ihren Schmerz finden. Ich musste auf dunkle Orte in meinem Denken und Fühlen zugreifen. Das war körperlich anstrengend und hat mich mental teilweise erschüttert.
Fiktion und Wahrheit – eine schwierige Beziehung
Ist es besonders schwierig, über reale Charaktere oder Ereignisse zu schreiben? Wie gehen Sie als Schriftsteller mit der Frage nach Wahrheit um?
McCann: Ach, Wahrheit! Ob Wahrhaftigkeit, Fake News, Literatur oder Sachbuch: Die Beziehung zwischen Fiktion und Realität war schon immer kompliziert, heutzutage ist sie noch schwieriger geworden. Wo ziehen hier wir die Grenze? In anderen Interviews habe ich gesagt, dass Fakten wie Söldner sind. Sie können manipuliert werden, um dann in den Ring zu steigen und die Arbeit für Dich zu erledigen. Aber die tiefe Wahrheit liegt in unseren Herzen - das menschliche Herz ist ein chaotischer Ort, der sich immer wieder verändert. Ich liebe es, die Realität mit meiner Fantasie zu vermischen, in der Hoffnung, dass ich dadurch etwas erschaffen kann, das ehrlich ist.
Ihr Buch hat 1001 Kapitel und spielt damit auf die Märchen aus Tausendundeiner Nacht an. Wieso haben Sie sich für diese Struktur entschieden?
McCann: Ursprünglich dachte ich an 50, dann an 100 Kapitel. Aber nach einem Jahr, mitten im Prozess des Schreibens, ist mir aufgefallen, dass Rami und Bassam die Geschichten ihrer Töchter erzählen, damit sie am Leben bleiben, so wie Scheherazade. Dann war mir schlagartig klar, dass es 1001 Kapitel sein müssen. Ich habe mich dann beim Schreiben für zwei Richtungen entschieden, also aufwärts zählend von Kapitel 1 bis 500 und dann wieder abwärts zurück bis zu Kapitel 1. Aber ich bin kein Mathematiker. Für mich war das alles eher wie Musik.
Sie schreiben, dass in Nordirland in den 1980er Jahren besonders viele israelische Flaggen verkauft wurden. Inwiefern hat die Kindheit in Irland Ihren Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt?
McCann: In Palästina bin ich an vielen Checkpoints vorbeigekommen. Aber wissen Sie, ich bin auch als Kind in Nordirland an vielen Checkpoints aufgehalten worden. Diese Zeit in Nordirland war wichtig für mich. Den irischen Friedensprozess bis zu seinem Abschluss in 1998 zu begleiten, war sehr hilfreich für mein Verständnis der Ereignisse im Nahen Osten. Als ich dann dort war, konnte ich die verschiedenen Formen von Trauer erkennen. Und die Kraft der Sprache als Waffe. Ich konnte auch die Lügen und Halblügen sehen und natürlich den Schmerz auf allen Seiten.
In „Apeirogon“ schreiben Sie: „Frieden ist moralisch unvermeidbar. Beide Seiten können sich nicht davon abhalten.“ Rami und Bassam sind befreundet und arbeiten für den Frieden. Was gibt Ihnen sonst noch Hoffnung in diesem Konflikt?
McCann: Wenn ich ehrlich bin, gibt es zurzeit nicht viel Hoffnung. Aber der Frieden wird als Überraschung kommen. Von unten und von normalen Menschen. Er wird zufällig passieren.
Interview: Schayan Riaz
© Qantara.de 2021
Colum McCann: „Apeirogon“, aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Rowohlt Verlag, Hamburg.
Der irische Schriftsteller Colum McCann gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren englischer Sprache. Er lebt in New York.