Mekka der Intellektuellen, Zentrum der Revolution

Der 1998 gegründete Merit-Verlag in Kairo spielt seit Jahren eine wichtige Rolle bei der politischen Meinungsbildung im Land.

Von Samir Grees

Nichts fällt am Gebäude Nr. 6 in der Kasr-el-Nil-Straße auf. Ein gewöhnliches, verkommenes Haus, an dem die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat, wie an den meisten Häusern dieser Straße im Herzen Kairos. Anfang des 20. Jahrhunderts war dies ein elegantes Viertel mit europäischen Zügen, inzwischen sind 100 Jahre vergangen. Ein paar Schritte von hier befindet sich der inzwischen weltberühmte Tahrir-Platz.

Ein kleines Schild am Hauseingang weist auf den Verlag hin, der im ersten Stock liegt. Man traut kaum seinen Augen: Ist diese kleine unscheinbare Wohnung der Hauptsitz des Verlags "Merit", dessen Gründung 1998 einem kleinen Erdbeben im ägyptischen Büchermarkt gleichkam?

​​Viele später bekannt gewordene Personen haben ihre ersten Werke hier verlegen lassen, wie etwa der Bestsellerautor Alaa al-Aswani, die Erfolgsautorin Miral al-Tahawi und der Schriftsteller Hamdy Abou Juleil.

Die Bücher des Verlags haben eine eigene Ästhetik, die Titelseiten werden anspruchsvoll von dem bildenden Künstler Ahmad al-Labbad konzipiert. Der Merit-Verlag setzte von Anfang an auf junge anspruchsvolle Literatur. Schnell machte er sich einen Namen als eine der ersten Adressen auf dem ägyptischen Buchmarkt.

Drehscheibe politischer Debatten

Der Motor des Verlags ist der Gründer und Direktor Muhammad Hashim. Fast schon wie ein kleiner ärmlicher Beamter sieht er aus. Auf den ersten Blick wirkt er etwas chaotisch, unruhig und hyperaktiv. Viele Schriftsteller hatten sich über ihn beschwert, weil er angeblich unzuverlässig sei, weil er oft Dinge verspräche, die er dann nicht einhalte. Doch wenn sie ein neues Manuskript in der Hand haben, dann rennen alle in die Kasr-el-Nil-Straße und wollen ihr neues Werk bei ihm veröffentlichen.

Muhammad Hashim ist ein durch und durch revolutionärer Verleger. In seinem Verlag werden vermutlich leidenschaftlichere politische Debatten geführt als auf einem ägyptischen Parteitag. Hashim ist ein ewiger Oppositioneller, er ist gegen die Regierung, den Präsidenten und die Korruption im Lande. Außerdem ist er ein vehementer Befürworter der Zivilgesellschaft und des Säkularismus in Ägypten.

"Als ich den Verlag 1998 gegründet habe", sagt Muhammad Hashim, "habe ich beschlossen: entweder ich leiste etwas, oder ich begehe Selbstmord." Davor, in den 1970er Jahren unter Sadat, war Hashim politisch aktiv, wurde verfolgt und inhaftiert – "wegen angeblich kommunistischer Umtriebe und des Versuches, das Regime zu stürzen sowie der Beleidigung des Staatspräsidenten", berichtet Hashim.

Nach seiner Freilassung hatte er in verschiedenen Berufen in Ägypten und Jordanien gearbeitet, bevor er beim Verlag "Masr al-Mahrussa" zwölf Jahre lang tätig war. Dann beschloss er, seinen eigenen Verlag zu gründen. Er gab ihm den Namen der schönen pharaonischen Prinzessin Merit.

Von der "Kifayya"-Bewegung bis zur Revolution vom 25. Januar

"Wir demonstrierten zum ersten Mal gegen Mubarak am 4. Dezember 2004", erinnert sich Hashim an die Geburt der Bewegung "Kifayya" (Es reicht!), die damals sich gegen die Wiederwahl Mubaraks aussprach. An jenem Tag versammelten sich etwa 300 Personen, darunter berühmte Schriftsteller, Künstler und Aktivisten wie Bahaa Taher und Alaa al-Aswani, um Mubarak "Es reicht!" zu sagen.

"Zum ersten Mal", erzählt Hashim rückblickend, "haben die Ägypten an diesem Tag "Nieder mit Husni Mubarak" gerufen!"

Aus der Kifayya ist dann eine neue Bewegung mit dem Namen "Schriftsteller und Künstler für den Wandel" hervorgegangen, die sich später um den ehemaligen Chef der UN-Atombehörde in Wien Mohammed ElBaradei scharte, als dieser Anfang 2010 nach Ägypten zurückgekehrt war.

"Seit Kifayya leisteten wir Widerstand gegen Mubaraks Regimes“, sagt Hashim nicht ohne Stolz. Er damalige Kulturminister Farouk Husni versuchte, die Intellektuellen mit gutbezahlten Ämtern und Literatur- oder Kunstpreisen zu zähmen. Kifayya hat die Mauer der Angst durchbrochen, dann fiel die Mauer ganz zusammen."

Schaltzentrale der Revolution

Ohne all diese Bewegungen, meint der Verleger, ohne die breiten Arbeiterproteste im Nildelta und die Bewegung der Jugend vom 6. April 2008, wäre die Revolution vom 25. Januar gar nicht möglich gewesen. Seit dem ersten Tag dieser Revolution war der Merit-Verlag so etwas wie eine Schaltzentrale der Revolution, wie manche Schriftsteller schmunzelnd sagen. "Viele Faktoren trugen dazu bei, meine Person spielte aber keine Rolle", sagt Hashim bescheiden.

Die Nähe zum Tahrir-Platz ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Ein anderer ist, dass der Verlag in den vergangenen Jahren ein wichtiger Treffpunkt vieler Schriftsteller und Künstler verschiedenster Strömungen geworden ist.

An den Tagen der Revolution sah der Verlag wie ein Aktivisten-Camp aus: Junge und ältere Demonstranten kamen und gingen, manche aßen, viele ruhten sich von den Repressionen der Polizei und der Schlägertrupps der Regierungspartei aus, andere übernachteten in den Räumen des kleinen Verlags, weil sie sich so spät in der Nacht nicht mehr auf den Heimweg machen konnten.

An diesen Tagen wurde der Verlag eine Anlaufstelle für Spenden für die Revolutionäre, die den Tahrir-Platz besetzt hielten: Decken, Geldbeträge, Speisen und Getränke wurden bei Hashim jeden Tag zur Verfügung gestellt, und zwar von ganz unterschiedlichen Menschen. "Neben Geschäftsleuten, Schriftstellern bekamen wir Spenden von einem Jesuit-Mönch sowie von einem Ex-General bei der Polizei, dessen einzige Bedingung war, dass ich seinen Namen nicht erwähne", erinnert sich Hashim.

Mit dem Rücktritt Mubaraks am 11. Februar 2011 ist die politische Mission des Merit-Verlags noch lange nicht beendet. Noch immer wimmelt es jeden Tag in Hashims Verlag von politischen Aktivisten, Intellektuellen und Politologen, die heftig über die Zukunft Ägyptens diskutieren. Im Verlauf der Debatten kommt Hashim von Zeit zu Zeit dazu, auch wieder einen neuen Vertrag mit einem Schriftsteller zu schließen, er geht ans Telefon – und bereitet die nächste politische Aktion vor.

Samir Grees

© Qantara.de 2011

Samir Grees hat Germanistik in Kairo und Übersetzungswissenschaft in Mainz studiert. Er arbeitet als freier Journalist und Übersetzer. Er hat zahlreiche Werke deutscher Literatur ins Arabische übertragen, u.a. "Ein liebender Mann" von Martin Walser, "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek und "Simple Storys" von Ingo Schulze.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de