"Ideen kann man nicht mit Waffen töten"
"Black Friday Special Offer" (dt. Sonderangebot zum Schwarzen Freitag) lautete ein Spruchband, das Aktivisten in Kafranbel hochhielten, einer kleinen Stadt in Nordsyrien. "Bringen Sie Ihren Feind mit und kommen Sie nach Syrien, um dort gratis zu kämpfen".
Als sich die Syrer 2011 gegen das autoritäre Regime von Baschar al-Assad erhoben, gingen die Demonstranten in Kafranbel jede Woche mit auffälligen Botschaften auf die Straße. "ASSad ist der Ursprung des Terrorismus", war eine davon, wobei das englische Wort "ass" auf Esel oder andere Schimpfwörter anspielt.
Diese originellen Botschaften werden oft auch mit Zeichnungen in Szene gesetzt. Sie prangerten die Brutalität des Assad-Regimes und seiner Verbündeten an und machten die ehemals unbekannte Stadt Kafranbel berühmt. "Die Spruchbänder von Kafranbel bezeugen nach wie vor die Träume der meisten Syrer", schrieb der syrische Schriftsteller Khalid Khalifa in seinem Vorwort zum Buch "Dancing in Damascus". Ihr Wortwitz und ihre Kreativität erhoben die Stadt schon bald zum "Gewissen der Revolution".
Raed Fares war der kreative Kopf hinter den Aktionen. Als prodemokratischer Aktivist und Organisator gründete er einen Radiosender, half beim Aufbau einer neuen Zivilgesellschaft im Gouvernement Idlib und trug maßgeblich dazu bei, die internationale Aufmerksamkeit auf die Notlage Syriens zu lenken.
Doch sein Einsatz zum Aufbau einer freien Presse, zur Stärkung der Frauenrechte und zur Schaffung der Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft zog den Zorn extremistischer Gruppen auf sich, die immer zahlreicher wurden, je weiter der Krieg eskalierte. Vor rund einem Jahr, am 23. November, wurden Fares und sein Mitstreiter Hamoud Jnaid von Attentätern in Kafranbel ermordet. Sein Vermächtnis indes bleibt und wird für viele Aktivisten weiterleben.
Fünfzig Jahre Unterdrückung und Leid
"Revolutionen sind Ideen und Ideen kann man nicht mit Waffen töten", sagte Fares in einer Rede auf dem Oslo Freedom Forum 2017. Die Syrer seien Opfer von zwei Arten von Terrorismus, erklärte er dem dortigen Publikum, als er über seinen Einsatz für ein freies und demokratisches Syrien sprach: Auf der einen Seite stehe das Assad-Regime und seine Verbündeten, auf der anderen Seite der IS und weitere extremistische Gruppen.
Als sich die Demonstrationswelle gegen das Assad-Regime in ganz Syrien ausbreitete, begann Fares damit, die Ereignisse in seiner Heimatstadt zu filmen. Die Proteste und das brutale Vorgehen der Regierung hielt er auf Videos fest. Auf dem Forum in Oslo zeigte er einen kurzen Film von brennenden Häusern, versengter Erde und mehreren Verletzten nach einem Luftangriff in Kafranbel.
"Was ich Ihnen nicht zeigen kann", sagte er dem Publikum, "ist der Geruch von verbranntem Blut. Der Geruch von versengten Körperteilen, von Schießpulver. Doch der Geruch von 50 Jahren Unterdrückung und Leid ist in mein Gedächtnis eingraviert."
Vereinte zivilgesellschaftliche Initiativen
Nachdem Oppositionskräfte das Gouvernement Idlib im Jahr 2012 dem Assad-Regime entrissen hatten, gründete Fares eine Organisation namens Union of Revolutionary Bureaus. Die Union führte mehrere Projekte durch: vom Radiosender und Medienzentrum über Hilfs-, Gesundheits- und Bildungsdienste bis hin zu Programmen zur Stärkung von Jugendlichen und Frauen.
Sein Radio Fresh, das Fares 2013 mit Mitteln des US-Außenministeriums ins Leben rief, warnte Anwohner vor bevorstehenden Luftangriffen. "Ursprünglich wollten wir die Menschen alarmieren und so die Zahl der Opfer senken. Doch das Radio wurde viel mehr als das", sagt Abdullah Klido, Chefredakteur von Radio Fresh. Der Sender begann mit der Ausstrahlung von Nachrichten und Geschichten über den Alltag in Idlib.
Mit der Eskalation des Krieges wurden Dokumentation und Berichterstattung über die Angriffe des Assad-Regimes immer riskanter. Die massenhafte Gewalt förderte die Radikalisierung. Bald sahen sich die Aktivisten nicht nur von der Artillerie und den Luftangriffen des Regimes bedroht, sondern auch von den stärker werdenden fundamentalistischen Gruppen.
Islamisten unterbanden die Übertragung von Musik und Frauenstimmen. Zur Umgehung des Verbots begannen Fares und seine Kollegen, Tier- und Naturgeräusche anstelle von Musik zu spielen, und veränderten die Tonhöhe der Frauen, damit sie wie Männer klingen.
Drohungen und Mordanschläge
Nur wenige Monate nach dem Start überfielen IS-Milizen den Radiosender und beschlagnahmten bzw. zerstörten die Ausrüstung. Im Jahr 2014 wurde Fares von IS-nahen Militanten angeschossen, er überlebte das Attentat nur knapp. Trotz der vielen Drohungen und Mordversuche arbeitete er weiter. Er weigerte sich, seine Heimatstadt zu verlassen und lehnte es ab, eine Waffe zu tragen. Er wollte mit friedlichen Mitteln kämpfen.
"Ich versuche zu überleben. Aber wenn mir das nicht gelingt, ist das eben so", sagte Fares 2017 der BBC. "Wir haben die Revolution gemeinsam begonnen. Uns allen war klar, dass wir die gleichen Risiken eingehen. Mein Leben ist daher nicht wertvoller als das meiner Freunde, die ihr Leben bereits verloren haben."
Am 23. November letzten Jahres wurden Fares und sein Freund und Mitaktivist Hamoud Jnaid nach dem Verlassen ihrer Büros in Kafranbel von Attentätern verfolgt. "Es war ein Freitag, als ich zum Radiosender ging. Ich saß mit Hamoud zusammen. Wir sprachen über Attentate, da so viele Drohungen bei uns eingingen", erinnert sich Klido, der Redakteur des Senders.
"Raed und Hamoud verließen den Sender gemeinsam. Von der Straße hörten wir Schüsse. Da wir jeden Tag Schüsse hören, haben wir uns zunächst nicht viel dabei gedacht. Wenige Minuten später erfuhren wir, was geschehen war." Unbekannte bewaffnete Männer hatten aus einem Lieferwagen auf die beiden Aktivisten geschossen. Fares und Hamoud starben gemeinsam.
"Beide waren eng befreundet. Keiner konnte ohne den anderen leben", sagt Klido. "Hamoud war immer sehr mutig. Wenn es einen Luftangriff gab, war er der Erste, der zum Ort des Angriffs lief, Hilfe leistete und den Angriff meldete. Er war ein Vorbild für alle", fügt er hinzu. "Damit sein Vermächtnis weiterlebt, müssen wir mit dem Radiosender und seiner Arbeit fortfahren."
Das Vermächtnis von Fares lebt weiter
Trotz der Bedrohungen und Risiken, die mit der Arbeit an einem der gefährlichsten Orte der Welt verbunden sind, haben Aktivisten geschworen, das Vermächtnis von Fares weiter fortzuführen. "Alle, die wir im Radiosender arbeiten, sehen uns als Verfechter der Revolution. Wir kämpfen für Freiheit, Würde und Gerechtigkeit", so Klido. "Solange unser Radio auf Sendung ist, wird die Idee der Revolution lebendig sein."
Wenige Monate vor seiner Ermordung schrieb Fares in der "Washington Post" darüber, wie die von der Regierung Trump angeordneten Mittelkürzungen die Arbeit der Aktivisten in Syrien bedrohten.
"Ohne die Finanzierung und Unterstützung unabhängiger Stimmen wie Radio Fresh wird die Welt möglicherweise die Wiedergeburt eines zweiten IS in Syrien erleben", warnte er. Fares schrieb über das, was er als seine Pflicht empfand: sich den fundamentalistischen Narrativen entgegenzustellen, die sich unter Menschen ausbreiten, die nichts anderes als Krieg und Verwüstung erlebt haben.
Der syrische Krieg zieht sich bereits fast neun Jahre hin. Die internationale Gemeinschaft verliert zunehmend das Interesse und streicht die Hilfsmittel für das Land. Die Vereinten Nationen stellten 2016 die Zählung der Opfer ein. Zu diesem Zeitpunkt wurde geschätzt, dass bereits etwa eine halbe Million Syrer ihr Leben gelassen hatten.
Die internationale Gemeinschaft schaut weg
Fares thematisierte auf seinen Spruchbändern häufig das Desinteresse der Welt und die Gleichgültigkeit gegenüber Kriegsverbrechen in Syrien.
"Kann es wirklich sein, dass ihr nicht seht, wie die Kinder hier sterben? Kann das wirklich niemand sehen", fragt Klido, der geschworen hat, das Werk von Fares fortzuführen, trotz des Desinteresses der übrigen Welt und der finanziellen Schwierigkeiten, Radio Fresh auf Sendung zu halten.
Laut Beobachtern starben unter den Bombardements der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten seit April dieses Jahres 1.300 Menschen allein im Gouvernement Idlib. Darunter mindestens 300 Kinder, da die Bomben regelmäßig Schulen und Krankenhäuser treffen.
"Jeder weiß, dass Baschar al-Assad ein Verbrecher ist. Dass er Chemiewaffen einsetzt. Aber niemand tut etwas dagegen", sagt Klido. "Wenn Ihr den Krieg schon nicht beenden könnt, dann schützt wenigstens die Menschen!"
Auf einem englischen Spruchband, das den Verlust von Fares beklagt, steht: "Deine Ermordung ist das Ergebnis der beschämenden Gleichgültigkeit dieser Welt". Ein weiteres Spruchband wurde in Kafranbel auf Arabisch gezeigt, das sich an Fares und Jnaid richtete: "Sie haben Euch nicht getötet", steht da. "Ihr seid weiter unter uns - als Leuchtfeuer der Freiheit."
Marta Vidal
© Qantara.de 2019
Aus dem Englischen von Peter Lammers