"Ich bin das Elend des 21. Jahrhunderts"
Ich habe in meinem Land all meine Freunde verloren, keiner von ihnen lebt mehr. So wurde ich zum Bettler und suchte neue Freunde in einem kalten Land. Vielleicht bin ich ein Opfer, das nicht schreien und sich nicht wehren soll, vielleicht bin ich die Träume, die an den Grenzen meines Landes zerbrachen, oder die Wunde, die noch immer blutet, das Problem, das nicht gelöst werden soll und die Unterdrückung, die weitergehen muss.
Seit fünf Jahren kommt Syrien nicht zur Ruhe. Die Menschen flüchten dort vor dem Tod. Sie fliehen mit ihren Träumen und ihrer Trauer in die Nachbarstaaten und in viele andere Länder und suchen Sicherheit. Seit eineinhalb Jahren lebe ich in Berlin. Ich versuche, mir in einer fremden und neuen Gesellschaft ein wenig Hoffnung zu schaffen. Ich leide noch darunter, dass die Sprache so schwer und die Stadt mir nicht vertraut ist, und darunter, dass ich die Chancen, die ich mir erhofft hatte, noch nicht gefunden habe.
Es bedrückt mich gar nicht so sehr, dass sich manche Deutsche wegen unserer Anwesenheit Sorgen machen. Sie mögen keine Fremden, das ist normal. Was mich aber schmerzt ist, wenn andere über mich sprechen, ich aber nicht selbst über mich sprechen oder mich verteidigen kann, und wenn ich Zeitungsartikel und Fernsehberichte sehe, die von "mir" sprechen, ohne dass ich antworten kann.
Ich kann noch nicht einmal falsche Informationen, die die Medien über mich verbreiten, richtigstellen. Ich soll nur zuhören und lesen, ohne zu kommentieren. Ich bin der Syrer, der nicht sprechen darf. Aber die ganze Welt darf über mich sprechen.
Keiner will verstehen, aus welcher Hölle ich komme
Wenn ich eine Zeitung sehe, bin ich auf Seite eins, im Fernsehen bin ich das Thema von Politikern und Talkgästen. Nur ich selbst bin nicht dabei, und niemand will, dass mir erlaubt wird zu sprechen oder mich zu erklären. Keiner will verstehen, aus welcher Hölle ich komme und warum ich hier bin. Und warum ich hier so eine Debatte auslöse. Parlamente verabschieden Resolutionen zu mir, die ich nicht kenne, in Sprachen, die ich nicht kann. Vielleicht erzählt mir zufällig ein Freund davon, aber lesen kann ich sie nicht.
Ich soll mich immer nur ans Gesetz halten und versuchen, ein höflicher und netter Flüchtling zu sein, der den Mann im Jobcenter nicht nervt, der Frauen nicht nachguckt, nicht ins Schwimmbad geht, nicht durch Kaufhäuser läuft und nicht mit Freunden zusammen in den Bus steigt. Und wenn doch, dann soll er nicht in seiner Muttersprache reden, sonst starren ihn alle Augen an und fragen: "Warum bist du hier?".
Ich soll zum Sprachkurs gehen und möglichst nie fehlen, ganz schnell eine Arbeit finden und meinen Nachbarn grüßen, der gar nicht so begeistert darüber ist, dass ich hier wohne. Ich soll es hinnehmen, wenn sich andere mir gegenüber schlecht benehmen, denn schließlich lassen sie mich hier wohnen und ich lebe von den Geldern ihres Staats. So zu leben habe ich mir nicht ausgesucht. Wissen Sie, warum ich es trotzdem tue? Weil ich in Syrien nicht unter Fassbomben sterben wollte. Nur deswegen.
Es ist keine Tragödie, einen Menschen aus einer anderen Umwelt als Nachbarn zu bekommen. Eine Tragödie ist es, sein Land verlassen zu müssen und dann monatelang auf die Familienzusammenführung zu warten. Und so schnell fliehen zu müssen, dass man sich nicht einmal mehr umdrehen kann, um sich mit einem letzten Blick von dem Ort verabschieden zu können, an dem man einst Freunde hatte.
Hier in der Fremde bin ich nicht nur das Thema, über das alle reden, ich bin das Elend des 21. Jahrhunderts. Ich bin Opfer von Gesellschaften, die meine Kultur schlucken wollen, damit ich in ihrer aufgehe. Ich bin ein Mensch, der kein Podium hat, um über seinen Schmerz zu sprechen, während die Gesellschaft alle Bühnen nutzt, um über diesen Fremden, diesen Flüchtling zu sprechen. Aber ich kann nicht antworten.
Nur so viel, fürs Erste: Ich bin ein Syrer, der das Alphabet erfunden hat, damit die Menschheit miteinander kommunizieren kann. Verbieten Sie mir daher nicht bei jeder Gelegenheit zu sprechen. Ich bin weniger ein Flüchtling als ein Mensch voller Gefühle. Ich suche Hoffnung in all diesen Trümmern und etwas Wärme, und ich danke allen, die mir beigestanden sind.
Nather Henafe Alali
© Nather Henafe Alali 2016
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Dieser Beitrag erschien zuerst im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" (Nr. 15/2016) .