Paranoia, jetzt
Als der Staub der Türme sich legte, senkte er sich nicht nur auf die Toten. Er begrub auch die Illusion der Unangreifbarkeit des amerikanischen Kernlands, begrub Vorstellungen vom glücklichen Ende der Geschichte. Begrub die Feinheit von Ausgrenzungen und abgestuften Herabsetzungen, begrub eine ganze Begriffswelt. "Gastarbeiter" gehörte dazu, "Kümmeltürke" und "Kanake", "Asylant", "Ali", der oft natürlich anders hieß. An ihre Stelle trat, gedanklich in Großbuchstaben: "der Muslim".
Rhetorisch sparte die Bezeichnung viel Zeit, bedeutete eine erhebliche Komplexitätsreduzierung. "Der Muslim" war schuld am 11. September, an Integrationsproblemen, an der Unterdrückung von Frauen, Schwulenhass, am europäischen Antisemitismus und zuletzt der stockenden Pandemiebekämpfung. Der Muslim, selbst der säkulare, gehörte einer Religion an, die weder Demokratie, Gleichberechtigung noch Individualität erlaubte und die den totalen Durchgriff auf das Leben des Einzelnen exekutierte.
Eintauchen in die Welt "der Muslime"
Für die Debatten der Gegenwart war der Muslim eine enorm nützliche Figur.
Ayad Akhtar, US-Schriftsteller und Sohn pakistanischer Einwanderer, umkreist die Abstoßungsreaktionen des Muslims und seiner Umgebung in Büchern und Theaterstücken mit schmerzhafter Gründlichkeit. In seinem biografischen Roman "Homeland Elegien" lässt er Riaz auftreten, einen pakistanischen Investor, der in den USA zu Reichtum gekommen ist und eine Studie über die Haltung zum Islam in Auftrag gegeben hat. Die fünf häufigsten Assoziationen der Befragten: "Wut - abgesondert - Selbstmord - schlecht - Tod".
Eine ganze Flut von Büchern, Filmen, Serien tauchte in die Welt "der Muslime" ein.
Ähnlich wie in seinem Erfolgsstück "Geschändet" finden sich auch in "Homeland Elegien" Passagen mit offener Zustimmung zu Osama bin Laden. "Dieser Mann hat recht. Unser Blut ist billig", heißt es an einer Stelle: "Sie" - die Amerikaner - "haben verdient, was sie gekriegt haben. Und was sie noch kriegen werden." Die Figur, die so spricht, ist Akhtars Mutter.
Über diesem Skandalon trat in den Hintergrund, dass der Sohn die Schadenfreude nicht teilte und sogar persönlich nahm. "Auch wenn das amerikanische Imperium uns so schlecht behandelt hatte", schreibt Akhtar, so habe der Angriff auf die Türme auch ihn getroffen. Das Symbol Amerika als "schimmerndes Reich der Zuflucht und der Erneuerung" - es war auch sein Symbol. Schließlich war er, Ayad Akhtar, Amerikaner, wenn auch ein Amerikaner mit komplexerer Identitätsschichtung als der übliche Redneck.
Unüberwindliche Fremdheit und unstillbare Wut
Akhtars Werke gehören zu einer ganzen Flut von Büchern, Filmen und Serien, die nach den Anschlägen in die Welt "der Muslime" eintauchten und fast immer Beunruhigendes fanden. In Anti-Terror-Epen wie "Syriana" (2006) von Stephen Gaghan oder "Body of Lies" (2008) von Ridley Scott verloren sich George Clooney oder Leonardo DiCaprio in einem Labyrinth von Geheimdiensten, Milizen, Attentätern und Höflingen. Obwohl die eigenen Leute in Washington in den Filmen keine gute Figur abgaben, obwohl die CIA wie immer sinistre Spiele spielte, obwohl die Regisseure sich mit manchem arabischen Sympathieträger um Authentizität und Ausgewogenheit bemühten, war die Botschaft die einer unüberwindlichen Fremdheit jener Welt und der unstillbaren Wut ihrer Bewohner.
Die Serie "Homeland" steigerte die Verunsicherung zur Paranoia. Acht erfolgreiche Staffeln präsentierten die Gefahr einer dschihadistischen Unterwanderung Amerikas als logische Konsequenz einer fast globalen islamistischen Komplizenschaft. Dabei verband der Hass auf die USA völlig realitätsfern sogar die schiitische Hisbollah mit der sunnitischen al-Qaida. Dass Kritik an der US-Politik als eine Art Einstiegsdroge für künftige Terroristen wirkt, war längst ein fester Topos.
Auch frühere Darstellungen von Muslimen waren nicht schmeichelhaft, etwa die "Indiana Jones"-Reihe oder, eine frühe Perle, "Der Scheich" von 1921 mit Rudolph Valentino. Immerhin schwang in diesen Werken noch eine gewisse Freude an orientalischer Farbenpracht oder gar Sinnenfreude mit. Inzwischen ist der muslimische Leinwandschurke als Nachfolger des "Russen" - noch früher: des "Deutschen" - in Hollywood etabliert. Und ob er vom "Asiaten" verdrängt wird, muss man erst mal abwarten.
"Gefährlich fremd": das Konzept vom "Islam als Schicksal"
Akademisch waren die Jahre nach dem 11. September eine fruchtbare Zeit. Die Anschläge schenkten Islamwissenschaft und Arabistik einen ähnlichen Zustrom wie die Perestroika der Slawistik. Auch in der breiten Öffentlichkeit steigerte sich das Interesse ins Fiebrige. Doch ungezählte Gesprächsrunden und scheinheilig alarmierte Titelgeschichten ("Allah im Abendland", "Mekka Deutschland" oder "Gefährlich fremd", alle Spiegel) führten nicht zu einem tieferen Verständnis der historischen, kulturellen oder sozialen Unterschiede von über einer Milliarde Menschen. Vielmehr erhärteten sie das Konzept vom Islam als Schicksal.
Der Schock von New York war nicht der einzige Grund. Die Entwicklung hatte sich abgezeichnet. Die Islamische Revolution in Iran, der Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetische Armee in Afghanistan, der Palästina-Israel-Konflikt hatten die Umrisse einer Kollektividentität entstehen lassen, die die Anhänger eines politischen Islam dankbar aufgriffen.
Nachdem das Ende des Kalten Krieges weite Teile der Welt in große Unübersichtlichkeit gestürzt hatte, versprach die neue Sortierung Klarheit. "Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Ära der Weltkriege, die zweite die Ära des Kalten Krieges. Im 21. hat die Ära der Muslim-Kriege begonnen": So säuberlich ordnete der Politologe Samuel Huntington 2007 in einem Interview die Welt.
Städte, Länder, ganze Kontinente verschwinden als Ursprungsorte im schwarzen Loch der "islamischen Welt"
Keine profanen Nischen mehr: Die "Islamisierung des Islams"
Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer beschreibt das Verhältnis in seinem Buch "Die Kultur der Ambiguität" differenzierter, zeichnet eine wechselseitige Dynamik aus Imitation und Abgrenzung nach, die Jahrhunderte umfasste. Die "Islamisierung des Islams" reicht dabei bis ins 19. Jahrhundert zurück. Schon damals führte die westliche Konstruktion einer "islamischen" Kultur dazu, dass selbst Alltagsgegenstände oder Techniken unter dem Begriff "islamisch" begriffen wurden. Die Fertigkeiten arabischer Ärzte? "Islamische Medizin". Der Weinpokal im Museum? Präsentiert als "Islamische Metallkunst". Nicht einmal die letzten profanen Nischen entgingen der Sakralisierung.
Heute hat die Kategorie der Religion andere Beschreibungen vollständig abgelöst. Städte, Länder, ganze Kontinente verschwinden im schwarzen Loch der "islamischen Welt". Inzwischen müssen sich selbst jene Muslime erst einmal als Muslime - also religiös - identifizieren, die sich um Distinktion bemühen und diese Einsortierung eigentlich ablehnen.
Da dürften sie sich bei den Taliban sehr bedanken. Seit drei Wochen wogen amorphe Gruppen über die Bildschirme, die mit Bart, Waffen und weiten Gewändern ein so einheitliches Bild abgeben, als kämen sie vom selben Herrenausstatter. Für die Frauenrechtlerinnen und Journalisten, die IT-Manager und Fitnesstrainer, die gerade in Doha oder in Spanien festsitzen und gerne nach Deutschland oder die USA weiterreisen würden, ist das eine dumme Sache. Für die einen sind sie Flüchtlinge. Für alle anderen Muslime.
© Süddeutsche Zeitung 2021