Roadmovie in die unbekannte Heimat
أDas Roadmovie der deutsch-kurdischen Regisseurin Soleen Yusef über die Reise dreier Geschwister in die Kurden-Gebiete Iraks überrascht mit unerwarteten Details und einer intelligenten Wendung am Schluss. Der Film war während der Filmwoche des Goethe-Instituts in Ägypten 2017 zu sehen.
Wer die Ankündigung zum Film der deutschen Regisseurin kurdischer Abstammung liest, erhält den Eindruck, er würde ein durchschnittliches Epos über die Krisen kurdischer Einwanderer zu sehen bekommen. Es handelt sich um die Geschichte dreier Geschwister, die in Kurdistan geboren, aber in Deutschland aufgewachsenen sind.
Um den letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter zu erfüllen, kehren sie in ihre Heimat zurück: Die Mutter wollte neben ihrem im Irakkrieg getöteten Ehemann beerdigt werden.
Man erwartet also einen Film über Geflüchtete, über die Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und in Kurdistan; vielleicht auch etwas über die Verfolgung, unter der die Kurden unter Saddam Hussein gelitten haben. Doch diese Themen kommen im Film vor, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt.
Kernthema des Films ist die Versöhnung der Geschwister mit ihrer Vergangenheit und der schwierigen Gegenwart. Die Regisseurin, die denselben Hintergrund hat wie ihre Helden, ist sich der Komplexität des Themas bewusst und wirkt schnellen Urteilen entgegen.
So zeigt gleich die Eröffnungsszene eine Episode aus dem Leben der Mutter kurz nach dem Fall Saddam Husseins, den Grad dieser Komplexität: Wenn Kurdistan so traumhaft war, weshalb ist die Familie dann überhaupt erst geflohen? Und wenn die Flucht durch die Diktatur unumgänglich wurde, weshalb ist die Familie dann nicht nach dem Sturz des Regimes zurückgekehrt? Wenn sie in Deutschland den richtigen Ort zum Leben gefunden hat, weshalb fühlen sich die Mitglieder der Familie dann so angespannt, ja elend?
Das Motiv der Straße
Der Film schickt seine Helden auf eine Reise, um diese einschneidende Frage zu klären. Soleen Yusef hat ein Roadmovie par excellence geschaffen und damit genau das richtige Genre gewählt, um all ihre Themen unterzubringen.
Nicht nur, weil die Geschichte auf dem geografischen und psychologischen Wechsel zwischen zwei Welten basiert, sondern auch, weil dieser Übergang von einer Welt in eine andere im Film tatsächlich immer mit dem Motiv der Straße verbunden ist. Weil das Genre des Roadmovies seinen Charakteren stets dramatische Entscheidungen abverlangt, scheint es hier perfekt zu den Krisen der drei Geschwister zu passen
Fremdsein und Entdecken sind die beiden hervorstechendsten Merkmale des Roadmovies. In einem Roadmovie wirkt der Hauptcharakter die meiste Zeit fremd und gehört nicht an den Ort, an dem er sich aufhält. Seine Beziehung zu diesem Ort ist flüchtig, selbst wenn er gezwungen ist, länger dort zu bleiben, als er es sich vorgestellt hat. So ist es auch bei den Geschwistern Alan, Jan und Liya. Sie fühlen sich überall fremd, in Deutschland, in Kurdistan und an allen Orten, die dazwischen liegen.
Ebenfalls hört der Held des Roadmovies nie auf, Neues zu entdecken. Er entdeckt die Orte, durch die er reist und die Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet. Durch seine Erfahrungen geläutert, entdeckt er am Ende sich selbst und seinen Platz in der Welt.
Im Film erfahren die Geschwister wichtige Neuigkeiten über ihren verstorbenen Vater und werden durch die Menschen, die sie in Kurdistan treffen, direkt mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert. Diese Konfrontation hilft ihnen, – wenn auch auf schmerzhafte Weise – ihre inneren Kämpfe zu überwinden, sich miteinander zu versöhnen und sich in einem zweiten Schritt auch der Geschichte ihrer Familie zu stellen.
Zwischen Fiktion und Realität
In einem offiziellen Kommentar zum Film erzählt die Regisseurin, wie sie 2014 während der Vorbereitungen für die Filmaufnahmen in der kurdischen Region im Nordirak von der Eroberung Mossuls durch den Islamischen Staat erfuhr. Angst und Horror überzogen die ganze Region und zwangen auch die Regisseurin unvermittelt, ihre Koffer zu packen und die Dreharbeiten auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Soleen Yusef schrieb: „Erneut erleben die Menschen dieser Region Tod, Angst und Furcht nach einer Zeit des Friedens und der Hoffnung. Wer interessiert sich in solch einem Umfeld denn schon für Filme?“
Keine zwei Monate nach dem Stopp der Dreharbeiten, dem Einmarsch des IS in den Kurdengebieten und den Massakern, die zum Genozid an den kurdischen Yeziden im Sindschar-Gebirge ausarteten, begann Soleen Yusef das Drehbuch zu Haus ohne Dach umzuschreiben und so die aktuellen Ereignisse zu verarbeiten. Im Ergebnis konnte sie das Filmende „dramatisch verbessern“, so Yusef.
Bemerkenswert sind die unglaublich schwierigen Umstände bei den Vorbereitungen zum Film, die wiederum das Drehbuch und den Dreh selbst beeinflussten. Dennoch haben diese Einflüsse den Film nicht zu einem politischen Streifen gemacht. Der Zuschauer bemerkt die Gefahr der sich entwickelnden Ereignisse nur am Rande. Immer wieder wird betont, der IS und die Gefahr, die von ihm ausgeht, seien weit weg, und vor einer so fernen Gefahr müssten sich die Kurden nicht fürchten.
Am Ende wird deutlich, wie nah die Gefahr tatsächlich ist, und wie wenig sicher die Protagonisten in Wahrheit sind.
Die Regisseurin verwebt auf intelligente Weise die politischen Umständen mit dem persönlichen Schicksal der Menschen. „Haus ohne Dach“ zeigt den Zustand einer kurdischen Familie, unabhängig von dem Ort, an dem sie sich befindet. Ein Haus bedeutet Wärme und Sicherheit, doch entfernt man das Dach, dann bleibt nur die Illusion einer schützenden Hülle, die aber keine Realität hat.
Ein Haus ohne Dach ist wie ein Mensch ohne Heimat, der sich schutzlos fühlt. Sein Überleben ist ständig bedroht und ein Gefühl von Endlichkeit begleitet ihn permanent. Für ihn gibt es kein andauerndes Glück und die Gefahr ist sein ständiger Begleiter, selbst wenn er einen Moment lang meinen sollte, dass diese weit von ihm entfernt ist.
Versöhnung und Zusammenhalt
Eine schwierige Situation? Sicher. Doch Soleen Yusef lässt nicht zu, dass sich der Film in Depression und Pessimismus verliert. Sie zeigt vielmehr Möglichkeiten, wie die harschen Umstände überwunden werden können und sich zumindest auf psychologischer Ebene eine Art Sieg erringen lässt. Versöhnung und Zusammenhalt lauten die Schlüsselwörter: Versöhnung mit der eigenen Situation und den menschlichen Schwächen.
Denn wer ein Leben im Exil führt, genießt nicht den Luxus, einander verurteilen zu dürfen. Die Familie der drei Geschwister urteilt über deren verstorbenen Vater. Sie möchte alle Erinnerung an ihn auslöschen und ihm noch im Grab die Wiedervereinigung mit seiner Frau verweigern. Die Geschwister aber lernen, dass sich das Leben nur mit Zusammenhalt meistern lässt. Denn mit einem Bruder, Freund oder Partner an der Seite verlieren viele Schwierigkeiten ihren Schrecken.
Der Erfolg Alans, Jans und Liyas am Ende ihrer langen Reise, ihre zahlreichen Abenteuer von Verfolgungsjagd über Komödie bis zu romantischen Verwicklungen, beschränkt sich nicht auf die Erfüllung des letzten Wunsches ihrer Mutter. Dies ist nur das vordergründige Ziel. Dass die Drei zueinander finden, den Wert des anderen kennen- und wertschätzen lernen, ist der wahre Erfolg.
Die Geschwister brauchten diese gemeinsame Erfahrung, um zu verstehen, was sie einander bedeuten, welchen Zauber die Liebe entfaltet und wie Freundschaft Barrieren niederreißt.
Die Reise der Geschwister wird zur Erfolgsgeschichte, weil sie nicht als dieselben Menschen zurückkehren, als die sie aufgebrochen sind. Anfangs hielten sie es kaum aus, auch nur zusammen in einem Auto zu sitzen. Mit diesem Film, der alle Zuschauererwartungen als falsch entlarvt, erreicht die Regisseurin Soleen Yusuf ihre Ziele.
Zugegeben, alle Themen, die man von der Geschichte erwartet, werden angeschnitten, doch steht die Politik nie im Fokus. Vor allen Dingen ist es ein Film voller Menschlichkeit, voll von Schmerz und Gefühlen. So wird „Haus ohne Dach“ für den Zuschauer zu einer wunderschönen Villa.
Ahmed Shawky ist Blogger und Filmkritiker
Aus dem Arabischen von Antonia Brouwers
© Goethe-Institut Ägypten 2017