Im Krieg filmt man anders

Politische Analysten haben den Arabischen Frühling mehr als einmal für tot erklärt. Die Filme junger arabischer Regisseure auf der Berlinale zeichnen ein anderes Bild. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Es ist wohl kein Zufall, dass auf der diesjährigen Berlinale auffallend viele Filme aus der arabischen Welt laufen. Im offiziellen Wettbewerb läuft der tunesische Film "Inhebbek Hedi" ("Ich liebe dich, Hedi"), in den anderen Sektionen gibt es Filme aus Algerien, Ägypten, Libanon, Marokko, Palästina, Syrien und sogar Saudi-Arabien – ein Land, in dem es nicht mal Kinos gibt.

Ausgerechnet in der wohl größten Krise der Region, die von Tunesien bis Syrien - angesichts von Terrorismus und Krieg - vor einer völlig unsicheren Zukunft steht, scheint ein besonderer Mut zum Experimentellen entstanden zu sein. Viele der Filme werden in der Festival-Sektion Forum gezeigt, in der zumeist jüngere, experimentellere Filme laufen. "Wir sagen ja nicht vorher, dieses Jahr machen wir 'Best of Arabien'" meint Christoph Terhechte, der seit 15 Jahren die Sektion leitet. "Wir hatten aber bei der Sichtung das Gefühl, dass in der Region viel passiert, das in unsere Denkrichtung geht. Viel Dokumentarisches, Experimentelles, hybride Formen, aktuelle Themen."

"Inhebbek Hedi" ist zum Beispiel eine bewegende, aber konventionell erzählte Geschichte über einen jungen Mann zwischen traditionellen Familienstrukturen und einem neuen postrevolutionären Freiheitsdrang in Tunesien. Die Zerrissenheit wird durch zwei Frauen symbolisiert: diehübsche und standesgemäße, aber von der Familie ausgesuchte Verlobte Layla und die unkonventionelle, selbstbewusste, alleinstehende Rim. Die Entscheidung fällt Hedi bis zur letzten Sekunde unendlich schwer, am Ende gelingt ihm der Ausbruch aus den alten Strukturen nicht ganz.

Filmstill "Inhebbek Hedi" - Sawssen Saya
Ausbruch aus dem streng reglementierten Leben: In dem Film "Inhebbek Hedi" verläuft das Leben des jungen Tunesiers Hedi im wahrsten Sinne des Wortes nach Plan: Seine von der Mutter arrangierte Hochzeit steht bevor, sein Chef kommandiert ihn herum. Doch dann lernt er auf einer Dienstreise die freiheitsliebende Rim kennen, die sein Leben verändert.

Metropole im Umbruch

Fast alle Filme aus der Region, die in diesem Jahr auf der Berlinale laufen, haben ein gemeinsames Thema: Die überkommenen sozialen Normen, die mit ihrer Enge einer jungen Generation förmlich die Luft zum Atmen nehmen. Mit dem Arabischen Frühling stellten die Jungen zwar die alte politische Ordnung in Frage, aber überwunden wurde sie nicht. Die meisten halten den Arabischen Frühling für gescheitert. In den Filmen dreißigjähriger arabischer Regisseure lebt er noch.

Sie haben nicht selten – freiwillig oder unfreiwillig – im Ausland studiert und im Exil unterschiedliche Kulturen und Gesellschaftsformen kennengelernt. Sie sind auf der Suche nach neuen Formen im Film und beim Erzählen der Geschichten. Sie blicken suchend zurück in die verdrängte Geschichte ihrer Länder, um neue Wege in die Zukunft zu beschreiben.

Die Überschneidung in den Themen ist offensichtlich. Der ägyptische Beitrag "Akher ayam el madina" ("Die letzten Tage der Stadt") ist ein poetisches Porträt der Metropole Kairo im Umbruch. Der Protagonist Khalid, Alter Ego des Regisseurs Tamer El Said, kommt in der bleiernen Starre des vorrevolutionären Kairo nicht mit seinem aktuellen Filmprojekt voran. Er ist auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft, der Familie, der Kunst. Die Dreharbeiten zum Film wurden 2010 abgeschlossen, als in den Straßen gerade die Muslimbrüder demonstrierten.

Glücklich ist Khalid im Film, wenn er seine gleichgesinnten Freunde, Filmemacher aus Beirut und Irak trifft. Das Fragende, Ungewisse ist spürbar in den "letzten Tagen von Kairo". Es gab kein Drehbuch, die Vielzahl der Bilder und Handlungsstränge setzte der Regisseur in den vergangenen Jahren in einem aufwändigen Prozess zusammen.

Wandel als längerer Prozess

"Wir fühlen diesen Zwang, alle diese Dinge im Film zu verarbeiten", sagt Tamer El Said. "Es sind existentielle Fragen. Wie können wir in dem Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, weiter existieren?" Sein Film endet kurz vor der dem Sturz Mubaraks, aber der bevorstehende Wandel ist bereits zu spüren. Wie fühlt er sich angesichts der chaotischen und gewaltsamen Jahre in Ägypten, die nicht zur ersehnten Freiheit geführt haben? "Ich wusste immer, dass es ein längerer Prozess ist. Aber es hat sich etwas geändert, und zwar für immer, und unsere Filme sind ein Teil dieser Veränderung."

Am Ende seines Films kommt der irakische Freund bei einem Bombenattentat in Bagdad um. Und da ist wieder die Hilflosigkeit, die Schwere. Diese Generation macht keine heroischen Filme, keine klassischen politischen Filme. "Es geht nicht mehr um die Battle of Algier" (den Filmklassiker aus dem Jahr 1966 über den algerischen Unabhängigkeitskrieg, Anm. d. Red.), sagt Mahmoud Sabbagh aus Saudi-Arabien. "So ist unsere Generation nicht. Die meisten von uns sind frustriert angesichts des Status quo und das drückt sich auch in der Formsprache aus."

Filmstill "Akher ayam el madina"; Quelle: Zero Production
Das Fragende, das Ungewisse: Der ägyptische Film "Akher ayam el madina" ("Die letzten Tage der Stadt") ist ein poetisches Porträt der Metropole Kairo im Umbruch. Der Protagonist Khalid, Alter Ego des Regisseurs Tamer El Said, kommt in der bleiernen Starre des vorrevolutionären Kairo nicht mit seinem aktuellen Filmprojekt voran. Er ist auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft, der Familie, der Kunst.

Das gilt auch für Sabbaghs Film "Barakah trifft Barakah", den wohl überraschendsten Beitrag auf der Berlinale. Ein Filmemacher aus Saudi-Arabien? In dem Land gibt es keine Filmkultur, die Kinos wurden von der Regierung geschlossen. Nach dem islamistischen Terroranschlag auf die große Moschee in Mekka 1979 wetteiferte der Staat mit den Radikalen und setzte wahhabitische Normen streng um, auch das Bilderverbot. Der Regisseur Mahmoud Sabbagh hat allerdings in New York Film studiert, sieht aus wie ein Berliner Hipster, und lebt heute wieder in der saudi-arabischen Hafenmetropole Dschidda.

"Die Stadt ist faszinierend, es gibt eine riesige Undergroundszene und unglaublich viele junge talentierte Künstler, Männer und Frauen." Aber es gibt keinerlei Filmstrukturen und keine Kulturförderung. So musste Sabbagh seine Filmarbeiten vor Ort in Guerillamanier mit Minibudget durchführen. Herausgekommen ist eine anarchische, witzige Liebesgeschichte.

Plädoyer für mehr Liberalität

Wieder geht es um das Thema der traditionellen Strukturen, die den öffentlichen Raum lähmen und die Entfaltung von jungen Menschen verhindern. "Aber in Saudi-Arabien ist Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich. Nach dem 11. September hat sich auch die Regierung gefragt, was falsch läuft. Und der Arabische Frühling hat sich auch ausgewirkt, es gibt einen großen Austausch unter der jungen Generation, zum Beispiel über die sozialen Medien." In seinen Film verarbeitet er Bilder aus einem Saudi-Arabien vergangener Jahrzehnte, als das Land viel offener und liberaler war. "Dschidda hatte auch mal eine Arthouse-Kinoszene", sagt Sabbagh. Sein Film ist ein eindeutiges und mutiges Plädoyer für mehr Liberalität.

Die tiefe Krise der ganzen Region und die Kombination aus den alten Strukturen und den kleinen, aber verwurzelten Pflanzen des Wandels, prägen all diese Filme. Eine besondere Rolle spielen die tiefen Narben der jahrzehntelangen Kriege. "Die Wahrnehmung von Leben und Tod ist anders, wenn man sich in einem Krieg befindet", meint Tamer El Said. "Wir fühlen immer eine besondere Dringlichkeit in unserem Leben, in unserer Kunst." Auch Forum-Leiter Christoph Terhechte sagt: "Es ist schon wahr, dass die interessanteren Filme dort entstehen, wo die Politik am instabilsten ist."

Beeindruckendes Potenzial

Der syrische Beitrag "Manazil bela Abwab" ("Häuser ohne Türen") von Avo Kaprealian spielt mitten im zerstörerischsten Krieg der Region in Syrien. Selbst aus der Hoffnungslosigkeit der Zerstörung erwächst hier eine besondere künstlerische Energie. Kaprelians Film ist der experimentellste der arabischen Filme bei der Berlinale. Der Regisseur meint, dass es "eine Energie gibt, die aus der Katastrophe des Krieges kommt". Was menschlich destruktiv ist, könne immer noch die Kunst beflügeln.

2012 wurde Kaprealian vom syrischen Regime verhaftet. Alle Filmaufnahmen, die er bis dato für seinen Film gemacht hatte, wurden zerstört. "Danach", sagt Kaprealian, "habe ich angefangen, intensiv über Erinnerung nachzudenken." In seinen Film "Manazil bela abwab" webt er den Genozid an den Armeniern ein. Vor 100 Jahren flohen Armenier vor dem Völkermord in der Türkei nach Syrien. Das Al-Midan-Viertel in Aleppo ist ihr berühmtester und symbolistischer Ort im Exil. Vom Balkon der Wohnung seiner Familie mitten in Al-Midan filmt er die Rauchsäulen nach den Granateneinschlägen, mal weiter weg, mal in unmittelbarer Nähe.

Kaprealians Film ist eine experimentelle Reise durch die verschütteten Erinnerungskulturen Syriens, momenthafte Ausschnitte der Kriegsrealität wechseln sich ab mit surrealen Filmausschnitten von Werken wie Alejandro Jodorowsky Western El Topo. "Den Krieg kann man nicht einfach professionell dokumentieren", meint Kaprealian. Die dokumentarischen Formen der jungen arabischen Filmemacher sind ebenso brüchig und instabil wie die Region.

Allen Regisseuren geht es in erster Linie um den künstlerischen Prozess, nicht um eine einfache politische Botschaft. Das Potenzial der jungen Talente und neuen Filme ist beeindruckend. "Es hat sich viel getan im arabischen Film", sagt Christoph Terhechte. "Es gab zwar früher immer mal einen interessanten Spielfilm aus dem Maghreb, aber nicht dieses heutige experimentelle, formal risikobereite, verrückte Kino. Da ist plötzlich eine Spielfreude, eine Experimentierfreude da." Ein hoffnungsvolles Zeichen in dunklen Zeiten in Nahost.

René Wildangel

© Qantara.de 2016

René Wildangel ist Historiker und leitete zuletzt das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Er lebt als freier Autor in Berlin.